Vom „Wahnsinn“ deutscher Geschichte
Donnerstag, 9. November 1989: Der Tag ging in die Geschichtsbücher ein.
Die von Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz der DDR-Regierung irrtümlich verlesene Mitteilung, Reisen in den Westen seien ab sofort möglich, löste einen Sturm auf die Berliner Mauer aus, dem sich die Grenzsoldaten nicht widersetzen konnten. Wer die Nacht, in der die Mauer nach 28 Jahren fiel, nicht verschlief, feierte auf den Straßen von Berlin. Fremde Menschen weinten und fielen sich in die Arme. Das meistgebrauchte Wort damals war ‚Wahnsinn‘". Im Sammelband „Die Nacht, in der die Mauer fiel“ des begnadeten Erzählers Renatus Deckert werden kleine Geschichten und die große Geschichte noch einmal lebendig. Autoren aus Ost und West, darunter Jürgen Becker, Marcel Beyer, Volker Braun, Adolf Endler, Durs Grünbein, Katja Lange-Müller, Emine Sevgi Özdamar, Katja Oskamp, Thomas Rosenlöcher, Hans Joachim Schädlich, Jochen Schmidt, Lutz Seiler, Antje Rávic Strubel, Uwe Tellkamp und Hans-Ulrich Treichel, haben für dieses Buch ihre persönlichen Erinnerungen geschrieben. Seit November 2009 liegt das Buch inzwischen in der 3. Auflage vor. Das Buch entfaltet auch nach Jahren seine nachhaltige Wirkung, denn es lädt dazu ein, es weiterzuschreiben, und Menschen nach ihren Erlebnissen zu befragen, die nicht prominent sind. Diese sind oft viel interessanter als jene, die immer wieder das Gleiche in den Medien berichten. Ihr Material ist längst auserzählt (die Politikerin Sahra Wagenknecht las in ihrem Zimmer, als das Brandenburger Tor aufging, Angela Merkel war in der Sauna ...).
Dr. Renatus Deckert, 1977 in Dresden geboren, ist Autor, Sprecher, Lektor, Herausgeber und promovierter Literaturwissenschaftler. In seinem Buch bricht er Themen auf, die auch heute noch anschlussfähig sind. Dazu gehört auch die Utopie. Der Begriff Utopie zieht sich wie ein roter Faden durch das Werke und die Briefe von Christa Wolf, auf die im Buch auch Bezug genommen wird. Der Begriff wird hier in ihrem Kontext allerdings kaum ausgeleuchtet. Aber genau das ist spannend, weil Raum gegeben wird, Erhellendes miteinander zu verbinden. Utopie hatte für Christa Wolf immer mit ihrem Bemühen um eine bessere Welt zu tun, die für sie die einzige Lebensmöglichkeit war, das Schlimmste zu verhindern (an Lew Kopelew, 26.11.1977). Der Titel ihrer fiktiven Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ (1979) ist die genaue Übersetzung von „Utopia“. Im Interview mit ihrer Enkelin Jana Simon sprach sie darüber, dass sie in der DDR lernen musste, ohne Alternative zu leben, dass „weder hier noch dort gut ist“. Deshalb der Titel, der damals genau ihre Befindlichkeit zum Ausdruck brachte.
Für Christa Wolf gab es keinen Ort, an dem sie sich geistig-politisch daheim fühlen konnte.
Das Schreiben war für sie, die immer in langen Zeiträumen dachte, auch ein moralischer Akt. Viele von den Autoren in Deckerts Sammelband wie Durs Grünbein gehören zur Generation derer, die in die DDR hineingeboren wurden, „aber mit ihren zu Ideologien verkommenen Idealen nichts mehr anfangen konnten“, schreibt Renatus Deckert. Der Dramatiker Heiner Müller fragte Grünbein damals verwundert: „Wie kommt es, dass Du keine Utopien hast?“ Wie Christa Wolf gehörte auch Heiner Müller zu jenen DDR-Prominenten, die fünf Tage vor dem Mauerfall, am 4. November 1989, auf dem Alexanderplatz zu den 500.000 Hörerinnen und Hörern sprach. Die Protestdemonstration war die größte nicht staatlich gelenkten Protestversammlung in der Geschichte der DDR. In der Spätphase der DDR und nach ihrem Ende fand Müller bittere Metaphern für die Mauer: Das „Mausoleum des deutschen Sozialismus“ nannte er sie in den achtziger Jahren - ein Grab der linken Utopien.
Christa Wolf erklärte am 4. November das Wende-Wort öffentlich zum Unwort: "Verblüfft beobachten wir, daß die Wendigen, im Volksmund Wendehälse genannt, die laut Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen, sich in ihr mit Geschick bewegen, sie zu nutzen verstehen. Mit dem Wort Wende habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur Wende!‘, weil der Wind sich gedreht hat (...). Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild noch? Stimmt es noch in dieser täglich vorwärts treibenden Lage? Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. Revolutionen gehen von unten aus." Doch der Begriff Revolution etablierte sich nicht. 1989 ging als „Wende-Punkt“ deutscher Geschichte ein. Täglich passierte damals etwas Neues.
Doch die Euphorie des Aufbruchs hatte bald ihren Glanz verloren.
Zu DDR-Zeiten zeigte er sich auch in Westpaketen, deren Duft sich ins „Päckchengedächtnis“ der Ostdeutschen eingebrannt hat. Nach 1989 waren viele Empfänger aus dem Osten darüber empört, dass der Inhalt der Pakete nicht so teuer war wie erwartet (billige Supermarktprodukte). Viele empfanden dies als Herabwürdigung. Dies kommt ebenfalls in Deckerts Textsammlung zur Sprache. Gezeigt wird aber auch, dass die Generation Mauerfall schnell lernte, sich im neuen gesellschaftlichen Systemzurechtfinden, weil sie einige Jahre Zeit hatte, um in das neue System hineinzugleiten. Für viele Ältere war der Schnitt allerdings härter: So stiegen nach der Wende die Angst- und Depressionskrankheiten im Osten Deutschlands. Fachwissen, Berufsabschlüsse und Qualifikationen wurden nicht nur nicht anerkannt, sondern auch gestrichen.
Am 4. November bemerkte Heiner Müller (dessen Rede als „Stimmungskiller“ galt): "Die Künstler freuten sich alle über das Volk und über den Aufbruch. Dabei war es eigentlich schon sehr traurig, weil bereits abzusehen war, was daraus wird." Auch Joachim Gauck verwies am Ende seiner Amtszeit darauf, dass sich auch sein Bild von "1989" verändert habe: "Es ist auch vieles einfach anders gelaufen, als wir uns das vor einem guten Vierteljahrhundert vorgestellt hatten – damals, wir erinnern uns, als die Berliner Mauer fiel und wir den Traum von einem Europa der freien und liberalen Demokratien hegten. Ich erinnere mich noch gut an die allgemeine Euphorie, natürlich auch an meine eigene. Der Siegeszug des westlichen Gesellschaftsmodells galt als vorgezeichnet.“
Es geht auch in Renatus Deckerts Buch nicht nur „Um die Nacht, in der die Mauert fiel“ – sein Buch ist auch der Schlüssel für das Verständnis des Davor und Danach. „Die alte Ordnung löste sich auf, in rasender Geschwindigkeit“, schreibt Lutz Seiler, der auch in Deckerts Sammelband vertreten ist, in seinem Roman „Stern 111“ über die Zeit nach dem Mauerfall, als die DDR zwar noch formal existierte, aber die Grenzen schon geöffnet waren. Es war eine Situation des Nicht-mehr und Noch nicht, die sich auch in Deckerts Buch findet. Alles erinnert auch an „Wolken und Kastanien“: oben das nicht Greifbare, sich Bewegende, das wir nur verstehen können, wenn wir uns bücken und das Kleine entdecken und be-greifen. Wer auf „Wolken und Kastanien“ nicht verzichten möchte, kann jederzeit die Geschichten von Renatus Deckert lesen: unabhängig vom Geldbeutel. Einmal im Monat erzählt er seiner Leserschaft, was ihm durch den Kopf geht oder am Herzen liegt. „Ich schreibe über Begegnungen und Gedichte, Kirschkerne und Schreibmaschinen, Bücher und verwitterte Steine, Engel und rote Johannisbeeren. Über Wolken und Kastanien.“
Im Rahmen dieses Beitrags schickte Olaf Schulze seine Erinnerungen an den 9. November 1989 – seine „Wolken und Kastanien“:
"Am Tag, an dem die Mauer fiel, habe ich am Abend auf meinem schwarz-weiss hornalten Röhren- Stassfurt-Fernseher (er verabschiedete sich Weihnachten 1989 genauso wie das Radio, so dass ich Silvester 1989/90 nur schöne Unterhaltung hatte) die Presseerklärung von Schabowski gehört, dann fleißig weiter studiert - und am Morgen war die Grenze in Berlin auf. Ich wohnte in Halle/Saale, studierte im letzten Studienjahr Staats- und Rechtswissenschaften und habe die Öffnung der Staatsgrenze der DDR für Besuchsreisen verschlafen. Selbst in meinem Taschenkalender befinden sich weder am 10. November noch danach irgendwelche relevanten Einträge, am 10. November hatte ich offenbar um 7.00 Uhr Friseur! Ich war am 18. November 1989 in West-Berlin und hatte am 19. Dezember als Eintrag eine Vorlesung an der MLU von einem "Prof. Pelzer BRD Atomenergie VÖR", das für Völkerrecht stand. Das war mir offenbar wichtiger - endlich neue Erkenntnishorizonte.
Aber noch wichtiger waren die Vorgänge davor, die Montagsdemonstrationen, welche die Öffnung der Grenze möglich machten. Wir hatten Anfang Oktober eine Austauschstudentin von der Uni Freiburg, Politikwissenschaften (so etwas gab es in der DDR gar nicht) an der Sektion für einen Monat zu Besuch, die dann unsere Freundin wurde, und sie sagte eines dienstags, dass sie gestern für uns demonstrierte. Ich weiß noch als wäre es jetzt, dass ich antwortete, bei uns gibt es so etwas nicht, und sie war für mich demonstrieren! Ab dann gingen Zehntausende montags auf die Straße, in Halle und anderswo, und dann am 9. November in Berlin.
Ich habe damals die Dimension der Grenzöffnung überhaupt nicht überrissen. Interessanter waren die Wochen danach, der allgemeine Freudentaumel, die nahezu täglich sich öffnenden neuen Grenzübergänge, bis es irgendwann die ehemalige deutsch-deutsche Grenze war. Geschockt war ich eher, wie aufwändig die Grenze "gesichert" war, so dass viel mehr Geld und Ressourcen in diesen Beton der Betonköpfe hineinging als in Wirtschaft und Entwicklung. Noch heute pausiere ich andächtig, wenn ich mit dem Rad durch Thüringen und dann nach Hessen ein- und ausfahre und zum Glück jede Straße und Weg, der über die vormalige Staatsgrenze geht, eine Gedenkstätte geworden ist.
Ich weiß noch genau, dass vor Weihnachten mein Onkel, der 1985 mit Familie in die BRD ausreiste, wieder nach Halle kommen durfte, er brachte viele Geschenke mit, und auch Silvesterknaller - so etwas war schon damals gegen meine Auffassung. Aber mit Freunden knallten wir auf dem Ochsenberg in Halle mit vielen anderen Mitternachtsgästen - und ein Freund, und das war das Entscheidende sagte, dass so friedlich herumzuknallen doch etwas Schönes ist. So friedlich!
Ich war dann Anfang März 1990 an der Uni Göttingen zu einem selbst organisierten Studentenaustausch, das war eine tolle Woche, und im August 1990 für zwei Wochen bei lieben Gastgebern zu einem zweiwöchigen Praktikum in der Verbandsgemeinde Südliche Weinstraße in Landau i.d.P. Da gab es noch DDR und BRD, aber der Einigungsvertrag - den ich übrigens heute noch als Exemplar hier habe - war schon unterzeichnet, und der Besuch im Westen, zwar immer noch im Kopf trotz D-Mark das Ausland, war fast Normalität. Dann begab ich mich über den nächsten Horizont, mit dem Fahrrad nach Wissembourg, endlich Frankreich!
Im November 2019 lernte ich auf einer Veranstaltung in Brüssel einen Mitarbeiter der EU-Kommission, der aus Chemnitz kam, kennen. Zufällig waren wir zur gleichen Zeit wenige Wochen zuvor in Korea - ich privat und er dienstlich. Er sagte mir, dass die wichtigen politischen Diskussionen deutlich überlagert waren von der Frage der koreanischen Partner, wie wir es geschafft haben, unser Land so friedlich wiederzuvereinigen. Ja, wir hatten es 1989/1990 geschafft, so friedlich!"
Das Buch:
- Renatus Deckert (Hg.): Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989. 4. Auflage, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Weiterführende Informationen:
- Generation Mauerfall: Worauf es im Leben wirklich ankommt
- Treibsand: Der Mauerfall als Comic
- Große Träume - erschüttertes Erwachen
- Zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht: Die Wendezeit als Experimentierfeld
- Werte der Menschlichkeit: Was Ost und West verbinden sollte
- Deutschlands blinde Flecken: Zur „Erfindung“ der Wiedervereinigung
- „Den existenziellen Tatsachen ins Auge“ sehen: Sarah Kirschs verdichtete Nachhaltigkeit
- Arno Luik: „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna.“ Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit. Mit einem Vorwort von Markus Lanz. Westend Verlag, Frankfurt/M. 2022.
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