Warum die Handschrift auch im Zeitalter der Digitalisierung unverzichtbar ist
Vom Zauber der Schrift
Die Handschrift ist eines der eindringlichsten Mittel, mit denen ein Mensch Spuren seines Lebens hinterlässt. Sie ist ein Abdruck seines Innern und sagt viel über sein Wesen aus, das sich in einer Zeit, in der das meiste nur noch digital kommuniziert wird, immer weniger auf dem Papier erkennen lässt. Der brasilianische Schriftsteller, Kunsthistoriker und Kurator Pedro Corrêa do Lago, der von 2003 bis 2005 Direktor der Nationalbibliothek Brasiliens war hat eine der weltweit größten Privatsammlungen handschriftlicher Briefe und Dokumente aufgebaut und im Laufe eines knappen halben Jahrhunderts rund 100.000 Dokumente zusammengetragen: Briefe, Notizen, Tagebuchseiten, signierte Fotografien, Partituren, Manuskripte, Widmungsexemplare und andere handschriftliche Zeugnisse, von einem mittelalterlichen Pergament, das vier Päpste unterzeichneten, bis zu einer Buchwidmung inklusive Daumenabdruck von Stephen Hawking aus dem Jahre 2006. Ihre Unterschriften zeugen von bewussten Momenten der Geschichte. Gezeigt wird aber ein Jahrhundert vor Instagram auch, dass bereits Mata Hari (1876-1917) schon die Kunst der Bildbearbeitung beherrschte.
Stefan Zweig war ein begeisterter Autografensammler. Am 27. Oktober 1917 kaufte er das Paschingerschlössel auf dem Salzburger Kapuzinerberg, wo er seine Autografenschätze beherbergte. Seine Schriften inspirierten zum Titel des aktuellen Buches „Zauber der Schrift“, das 140 Dokumente aus fast 900 Jahren von Menschen aus Politik, Literatur, Kunst, Philosophie, Film, Musik und Wissenschaft enthält: Briefe von Lucrezia Borgia, Vincent van Gogh, Franz Kafka und Emily Dickinson, kommentierte Skizzen von Michelangelo, Jean Cocteau, Henri Matisse und Jackson Pollock, signierte Fotografien von Oscar Wilde, Rasputin, Emiliano Zapata, Sun Yat-sen, Josephine Baker und Allen Ginsberg, Handschriften von Giacomo Puccini, Jorge Luis Borges und Marcel Proust. Sogar ein signierter Handabdruck von Antoine de Saint-Exupéry ist hier abgedruckt.
Das Buch hat eine Ausstellung in der Morgan Library & Museum begleitet, die im Herzen der Stadt New York liegt. Sie entstand aus der Privatbibliothek des Finanziers John Pierpont Morgan (1837–1913), einem der herausragendsten Sammler und Kulturmäzene in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Heute ist es Museum, Forschungsbibliothek, Aufführungsort, architektonisches Wahrzeichen und eine historische Stätte, an der die bedeutendsten Handschriften aus Mittelalter und Renaissance, literarische und historische Manuskripte und Briefe, Musikhandschriften, seltene gedruckte Bücher und Einbände, Zeichnungen und antike Kunstwerke untergebracht sind.
1907 bat Stefan Zweig seinen Freund Rainer Maria Rilke: „Ich möchte Sie um ein kostbares Geschenk bitten, um das Manuskript eines Ihrer Versbücher ... ich weiß, ich verlange sehr viel, denn ich kenne den Zauber der Schrift, ich weiß, dass man mit der Handschrift eines Buches nicht nur schenkt, sondern auch ein Geheimnis verrät. Freilich eines, das sich nur der Liebe enthüllt.“ Zwei hatte bereits Manuskripte wie Goethe gekauft und andere von Freunden wie Hermann Hesse und Ellen Key erhalten. Auch Rilke erfüllte Zweigs Wunsch. Er überließ ihm ein Manuskript von „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, wie Zweig in seiner Autobiografie „Die Welt von Gestern“ schreibt. Er sah sich nicht als Besitzer dieser Dinge, sondern „für eine gewisse Zeit als ihren Vormund.“
Die Bedeutung der Handschrift
Den Umgang mit digitalen Geräten muss heute jeder beherrschen. Dazu gehört auch das Tippen, das allerdings die Bedeutung und das Potenzial des Handschreibens reduziert und ignoriert (Smartphone, Touchscreen). Doch es macht Sinn, alles, was strukturiert werden soll, erst einmal handschriftlich aufzuschreiben, weil wir es uns dann besser merken können. Viele analoge Schreiber berichten, dass sich handschriftliche Notizen in geliebten Notizbüchern wertiger anfühlen als andere Notizen. Der optische und physische Rahmen verleiht den eigenen Gedanken scheinbar „mehr Gewicht“, schreibt Christian Mähler in seinem Beitrag „Stift und Papier – analoge Multitalente“.
Füllhalter sind heute für viele Menschen sinnliche Begleiter, weil sie auch tristen Momenten im Digitalisierungszeitalter etwas Glanz verleihen können. Sie lehren uns den Zusammenhang zwischen der Spur auf dem Papier und dem menschlichen Innenleben. Wer damit schreibt, nimmt damit auch Einfluss auf den Text, der langsameres Schreiben erfordert: „Das passt gut zu einem Medium, das keine ‚undo‘-Taste kennt, es gilt: Erst denken, formulieren und dann schreiben.“ (Frank Berzbach) Schreiben ist etwas Aktives und Persönliches - und etwas Prägendes im besten Wortsinn, das man spüren und hören kann, wenn die Feder über das Papier gleitet.
Die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, die bei der memo AG für die Unternehmenskommunikation zuständig ist, verweist noch auf den Aspekt der Entschleunigung: „Allein die Zeit, die man sich zum Wiederbefüllen des Füllers nimmt, mag manch einem heute als Luxus erscheinen. Es wird nicht einfach die Tastatur bemüht, sondern die Hand. Hinzu kommt der Aspekt des ‚schönen Schreibens‘.“ Auch die Sehnsucht nach Selbstbestimmung „fließt“ hier ein. Silber verweist auch darauf, dass von echter Verschwendung bei einem übermäßigen Gebrauch von Billigschreibgeräten gesprochen werden kann, denn sie gehen nach kurzer Zeit kaputt oder schreiben von Anfang an schlecht, so dass der Stift dann schnell in die Mülltonne wandert.
Warum Kalligrafie immer beliebter wird
Die etwa 7.500 Jahre alte Schriftgeschichte ist durch Handschriftlichkeit oder Kalligraphie geprägt. Das Wort leitet sich von altgriechischen Begriffen kallos für Schönheit und graphia für Schreiben und Darstellen ab. Bis ins 15. Jahrhundert wurden Bücher von gesellschaftlich hoch angesehenen Kalligraphen geschrieben. Die Anfertigung einer Kopie konnte damals bis zu sechs Monaten dauern. Mit Erfindung der Typographie verlor die Kalligraphie allerdings an Bedeutung. Im asiatischen Raum spielt sie aber noch immer eine wichtige Rolle. Bei den Chinesen waren sogar die Kaiser bestrebt, es in dieser Disziplin zur Meisterschaft zu bringen. Jeder Schriftzug ist etwas Besonderes, die Abstände müssen gleichmäßig sein, damit das Auge nicht hängenbleibt. Es geht um die richtige Stifthaltung, und es kommt darauf an, das Innere sichtbar zu machen. Jedes Zeichen muss lebendig sein.
Der Franzose Nicolas Ouchenir ist einer der gefragtesten Kalligrafen der Welt. Er sagt: „Kinder sollten von Anfang an mit Tinte schreiben, die sie nicht ausradieren können.“ Ein Füllfederhalter lehrt uns den Zusammenhang zwischen der Spur auf dem Papier und dem menschlichen Innenleben: „Der Geist bildet die Hand, die Hand bildet den Geist … Die Gebärde aber, die schöpferisch ist, übt eine dauernde Wirkung auf das Innenleben aus. Die Hand reißt den Tastsinn aus seiner nur aufnehmenden Passivität, sie befähigt ihn zur Erfahrung und Tat.“ (Henri Focillon, Lob der Hand, 1934)
Auch Giselheid Schulz-Ëberlin, die als Coach https://giselheid-schulz-eberlin.de/coaching entlang der Themen Sinn, Sein, Sehnsucht und Schreiben arbeitet, denkt sich schreibend vorwärts. Schreiben am Rechner oder am iPhone ist für sie meistens „ein Abschreiben des zuvor auf Papier Geworfenem; des mehr oder weniger schnell Hingekritzelten, das unvermittelt aus dem Inneren aufstieg.“ Sie mag ihren kleinen Kalligraphiefüller und freut sich, wenn ihr gut leserliches und schönes Schreiben gelingt. Das handschriftliche Schreiben ist und bleibt ihr liebstes „Kommunikationsmittel mit anderen Menschen.“
Bereits seit einigen Jahren ist eine Gegenbewegung zu den digitalen und mechanisierten Gestaltungsmöglichkeiten spürbar. Das Interesse an Schrift auch abseits professioneller Kalligrafie erlebte schon während der Weltfinanzkrise zwischen 2007 und 2009 eine besondere Ausprägung. Die Bemühungen, die eigene Schrift zu pflegen, nahmen zu dieser Zeit spürbar zu. Auch das Buch „Gott der Barbaren“ von Stephan Thome, der Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio studierte, legt davon Zeugnis ab. In seinem Lehrstück über die chinesische Zerrissenheit zwischen Tradition und Fortschritt widmet er sich den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen England und China zur Zeit des Taiping-Aufstands zwischen 1856 und 1860 - eine Vorgeschichte unserer krisengeprägten Gegenwart und radikal verändernden Welt.
Drei Romanfiguren stehen im Zentrum der Geschichte: der junge Deutsche Philipp Johann Neukamp, ältester Sohn eines Zimmermeisters aus dem Märkischen, aber ohne Beruf, der als christlicher Missionar nach China auswandert; der britische Sonderbotschafter Lord Elgin und der chinesische General Zeng Guofan (beide sind reale, historische Personen). Johann Neukamp empfand es als „merkwürdig befriedigende Tätigkeit“, mit einem feinen Pinsel chinesische Schriftzeichen zu malen, auch wenn seine Ergebnisse aussahen wie die Schreibversuche eines kleinen Kindes. „Kopiere jeden Tag hundert bis zweihundert Zeichen auf Ölpapier, bis du das Gefühl hast, dass sie dem Vorbild der alten Meister zu gleichen beginnen“, heißt es im Buch, das zugleich eine Anleitung zum Lesen ist: „Lies nicht zu viel, aber sauge alles, was Du liest, mit leerem Herzen in Dich auf. Streich die unklaren Stellen an und kehre beim nächsten Mal zu ihnen zurück. Das leere Herz wird eingeweicht und schwimmt. Einen Text verstehen heißt, sich von seinem Sinn tränken zu lassen, so wie ein trockenes Feld vom Regen getränkt wird. Es geschieht nicht sofort, erst muss der Boden weich werden.“
An einer Wand hing eine Kalligraphie in Li Hongzhangs eleganter Handschrift: „Wer Großes leisten will, braucht kein übermenschliches Talent, nur einen unbeugsamen Willen.“ So verwundert es nicht, dass sich auch viele Unternehmen, die „Großes“ und Nachhaltigen leisten und sich im Markt unterscheiden wollen, auf die Kunst des schönen Schreibens setzen. Sie lassen Einladungen, Schilder und Karten von Hand beschriften. „Handlettering“, das ursprünglich in der Schildermalerei beheimatet war, ist sehr gefragt, die Schönschrift mögen und ihren Kunden eine besondere Form der Wertschätzung entgegenbringen möchten. "Das Medium ist die Nachricht", sagte schon der kanadische Philosoph Marshall McLuhan.
Die Nachfrage nach Handschriftlichem wächst heute in dem Maße, in dem Alltagskommunikation immer schneller, digitaler und oberflächlicher wird. Der Handel reagierte bereits vor einigen Jahren auf diesen Trend. Auch im Nachhaltigkeitsportal memolife finden sich Anleitungen und Tipps zum Thema Schönschrift sowie Kalligrafie-Schreibzeuge, die sich dadurch auszeichnen, dass sie keine punktförmige, sondern eine breite Spitze haben. Dadurch entsteht der bekannte Wechselstrich, der beim Schreiben abwechselnd ab- und anschwillt.
Das Erlernen der Handschrift ist im Zeitalter der Digitalisierung ist nicht überflüssig geworden
Die digitale Schule braucht die Handschrift, um das Denken und die eigene Persönlichkeit zu fördern. Lehrer bestätigen, dass sich das Schriftbild der Schüler allerdings leider sichtbar verschlechtert. Nach einer Umfrage, die das Schreibmotorik-Institut gemeinsam mit dem Lehrerinnen- und Lehrerverband durchführte, haben inzwischen 30 Prozent aller Mädchen und 50 Prozent aller Jungen Probleme, flüssig zu schreiben. Das liegt daran, dass Kinder schon mit weniger motorischer Kompetenz in die Schule kommen. Problematisch sei nicht der Erstschreib-Unterricht – vielmehr muss aus dem gelernten Alphabet eine individuelle flüssige Handschrift entstehen. Wo sie fehlt, sind Menschen auch nicht in der Lage, in Zusammenhängen zu denken. Aber gerade darauf können wir im Komplexitätszeitalter nicht verzichten.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Dinge des Lebens im Zeitalter der Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Christine Nelson, Pedro Corrêa do Lago, Julius Wiedemann: Zauber der Schrift. Sammlung Pedro Corrêa do Lago. TASCHEN Verlag, Köln 2019.
Christian Mähler: Stift und Papier – analoge Multitalente. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.
Stephan Thome: Gott der Barbaren. Suhrkamp Verlag Berlin 2018.
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