Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Warum Freundschaft die tiefste Quelle von Nachhaltigkeit ist: Interview mit der Philosophin Dr. Ina Schmidt

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Interview mit Dr. Ina Schmidt

Frau Dr. Schmidt, in seinem Grußwort zur 2. Bonner Konferenz zur Entwicklungspolitik, die im August 2009 stattfand, sagte der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler, dass Freundschaft die tiefste Quelle von Nachhaltigkeit ist. Was macht für Sie diesen „Urgrund“ aus?

Freundschaft ist eine Lebensform, vielleicht die schönste, um das jedem Menschen innewohnende Bedürfnis nach „Gemeinschaft“ zum Ausdruck zu bringen. Der Soziologe Richard Sennett hat geschrieben, dass der Mensch schon deshalb mit anderen kooperieren muss, weil er allein nicht überleben kann. Aber auch über diese sehr funktionale Erklärung hinaus sind wir darauf angelegt, nach einem Gegenüber zu suchen - und das Leben ist sehr viel reicher und angenehmer, wenn dieses Gegenüber ein freundliches ist. Das reicht von ganz persönlichen Freundschaften bis hin zu einer bestimmten Umgangsform mit anderen Völkern, wie wir gerade zurzeit wieder sehr deutlich sehen. Dahinter stehen sehr unterschiedliche Facetten und Aspekte von „Freundschaft“, aber das, was sie alle zusammenhält, ist das Streben, nicht mit sich selbst allein zu sein und für den eigenen Weg die bestmöglichen Begleiter zu finden. Diese große Bedeutung der Freundschaft hat schon Aristoteles festgehalten, und gerade die gegenwärtige Hirnforschung bestätigt unser Gehirn als Beziehungsorgan sehr deutlich. Wenn wir also in eine Welt hineingeboren werden, in der es darum geht, Beziehungen zu leben, in einer Gemeinschaft seinen Platz zu finden, dann ist es sehr wesentlich, wie ich über Freundschaften denke, was sie mir bedeuten und wie ich bereit bin, mich dafür einzusetzen.

Weshalb ist das Bedürfnis heute ausgeprägter denn je, Freundschaften zu knüpfen und darüber verstärkt zu kommunizieren? Auch in der Philosophie erlebt das Thema gerade eine Renaissance, Freundschaftsbücher boomen, und auch die Werbung setzt seit langem auf Gemeinschaftsmomente. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Vielen Menschen geht es heute – sehr viel stärker als früher - darum, sich auf die Suche nach dem eigenen Platz in einer Welt zu machen, einer Welt, die sich im traditionellen Sinne in einem Auflösungsstadium befindet. Viele alte Leitlinien, Bräuche, Moralvorstellungen etc. greifen nicht mehr und das ist zum großen Teil auch gut so. Daraus resultiert u.a. das, was wir Freiheit nennen. Aber wie Jean-Paul Sartre schon wusste, ist es alles andere als leicht, mit der Freiheit zu leben und sie zu gestalten. Und so zeigt sich in der Renaissance der Freundschaft auch das starke Bedürfnis, dem freien Spiel der Möglichkeiten etwas entgegen zu halten, etwas, das uns Halt und Sicherheit gibt – gerade auf der sozialen Ebene.

Welche Idee von Freundschaft vermitteln Sie in Ihrem Buch? Und auf welche geistigen und kulturellen Wurzeln greift sie zurück?

In meinem Buch versuche ich zum einen zu zeigen, dass es keine klare Definition von Freundschaft, keinen objektiven Maßstab für das geben kann, was das immer Gute und Richtige ist. Es gibt kein Rezept und keinen 10-Punkte-Plan für das Ziel, einen guten Freund zu finden. Freundschaft ist nach meinem Verständnis eine Art „Potenzial“ - etwas, das wir in der Übereinstimmung mit einem anderen Menschen erkennen können, wenn wir wach und aufmerksam durchs Leben gehen. Dabei auf jemanden zu treffen, der die Welt auf ähnliche Weise sieht, wie ich - selbst wenn wir ganz anderer Meinung sind – ist etwas sehr Besonderes. Diese geistige Übereinstimmung ist ein Geschenk, etwas, das wir nicht herstellen oder einfordern können. Wenn wir sie aber wahrnehmen, können wir viel dafür tun (oder eben auch nicht), um diese Freundschaft zu mehr werden zu lassen, wir können sie gestalten oder verkümmern lassen. Und dies ist eine Entscheidung, die ich treffen muss. Am Ende also etwas, das sich in meinem Handeln wiederfindet. Diese Verknüpfung einer „geistigen Verbindung“ mit einer lebendigen Praxis greift das auf, was in der Antike, insbesondere bei Aristoteles, als die höchste Form der Freundschaft beschrieben wurde – eine Freundschaft der „Trefflichen“, die immer etwas damit zu tun hat, dass wir in unseren Werten und ethischen Überzeugungen einig sind und damit gemeinsam nach einem „tugendhaften“ Leben streben, das letztlich auch der Gemeinschaft zugutekommen kann. Darin liegt eine sehr idealisierte Form der Freundschaft, aber es lohnt sich, denke ich, gerade heute, darüber nachzudenken, ob unsere Freundschaften mit solchen ethischen Überlegungen überhaupt noch etwas zu tun haben.

Inwiefern hat sich Freundschaft im Zuge der Digitalisierung und einer immer schneller und komplexer werden Welt gewandelt?

Da kommen verschiedene Dinge zusammen: zum einen ist es schlicht so, dass wir immer weniger Zeit zu haben glauben, um uns um unsere Freunde zu kümmern, um zu wissen, was in ihnen vorgeht, was sie umtreibt und wie wir dazu stehen. Aristoteles hat gesagt, wir müssen mit unseren Freunden unser Leben teilen, und das ist eben nicht im Sinne von Facebook-Posts gemeint, sondern als eine echte Form der „wohlwollenden Anteilnahme“. Das ist schlicht nicht möglich, wenn es zu viele Themen und Menschen in meinem Leben gibt, die möglicherweise auch noch über das halbe Land verteilt sind. Dabei geht es nicht darum, sich nun nur noch auf sein Stadtviertel und seinen Arbeitsplatz zu konzentrieren, aber gerade in Sachen Freundschaft ist es wichtig, eine Auswahl zu treffen und diese auch zu „verteidigen“ gegen alles, was von außen auf uns einströmt. Die gegenwärtige Praxis aber sieht vielfach so aus, dass wir versuchen, immer mehr Menschen und Dinge in immer kürzeren Zeiträumen unterzubringen, und da scheinen die sozialen Netzwerke natürlich sehr hilfreich zu sein. Allerdings wissen die meisten von uns eben auch, dass wahrhaftige Freundschaften darin nur selten vorkommen, und so ist am Ende nicht viel gewonnen, wenn wir uns nicht darin üben, uns tatsächlich auf die wesentlichen Menschen und Inhalte in unserem Leben zu besinnen.

In Ihrem Buch verweisen Sie darauf, dass der Begriff „Freund“ von der althochdeutschen Wurzel „fuint“ abstammt, die so viel bedeutet wie „Friede“ oder „frei“ - gleichzeitig aber die indogermanische Silbe „fri“ in sich trägt, mit der die Tätigkeit des „Liebens bzw. Hegens“ gemeint ist. Damit verbindet sich auch ein konkretes Bild: der irdische Garten, der bestellt und gehegt werden muss. Wird seine Pflege damit nicht auch zu einem symbolischen Beitrag für die aktuell geführten Debatten um den Wert von Freundschaft und Nachhaltigkeit?

Ja, ganz sicher. Diese Aufmerksamkeit, die Frage nach den Konsequenzen des eigenen Tuns, die Überlegung, was für mich das Wesentliche ist und was vielleicht eher nicht, sind Aspekte, die Freundschaft zu einer sehr nachhaltigen Form des menschlichen Miteinanders machen – wenn wir denn sorgsam mit dem Begriff des Freundes umgehen und selbst dafür sorgen, ihn von anderen Formen des menschlichen Umgangs abzugrenzen.

Welche wichtigen Elemente jeder Freundschaft enthält der Begriff „Freund“ für Sie noch?

Wie schon kurz erwähnt, geht es, denke ich, in jeder Form der Freundschaft darum, etwas „Ähnliches“ in einem anderen Menschen zu entdecken, nicht zwingend etwas Gleiches, aber etwas, das dafür sorgt, dass wir den anderen verstehen und uns verstanden fühlen – also so etwas wie eine Form der „Wahlverwandtschaft“. Freundschaft ist immer etwas Positives, etwas, das uns gut tut, aber eben nur dann, wenn es ihr um die Beziehung selbst geht und nicht um den vielleicht daraus entstehenden Nutzen. Hier grenzen schon die antiken Philosophen die verschiedenen Ausdrucksformen der Freundschaft voneinander ab. Cicero beispielsweise führt das „Maß der Liebe“ gegen das „Maß des Vorteils“ an, um die reine Nutzenfreundschaft herauszustellen, eine Beziehung allerdings, die er auf die gleiche Stelle mit Waren und Gütern stellt, die reiche Erträge bereithalten. Wahre Freundschaft speist sich aus dem Wert, den wir aus der Gegenwart des anderen ziehen, sie ist immer eine freiwillige Verbindung, in der es nicht darum geht, Verträge einzuhalten, oder ein Ergebnis zu erzielen - eine Beziehung, die wir also auch wieder lösen und beenden können, wenn das „geistige Band“ gerissen sein sollte.

Weshalb ist es wichtiger, nach dem „Warum“ (nach den Gründen für Freundschaft) zu fragen als nach dem „Was“?

Wenn wir nach dem „Warum“ fragen, gehen wir dem Sinn einer Sache, einer Situation, einer Beziehung auf den Grund. Wir fragen nach den Kriterien, die uns dies oder jenes in unserem Leben haben lassen und anderes eben nicht – wenn wir uns also fragen, warum dieser oder jener Mensch mein Freund ist, geht es weniger darum, was wir mit ihm tun oder teilen, sondern, was die Beziehung zu ihm wirklich ausmacht. Und dann lassen sich von dort aus auch die Inhalte ausmachen, die diesen „Sinn“ lebendig halten. Ein Beispiel: Wenn ich eine Freundin nur deshalb in meinem Leben habe, weil wir beide gern nach Italien fahren und ich mich im Urlaub dann nicht so allein fühle, dann ist das sicher ein ernstzunehmender Grund für eine gemeinsame Reise, aber kein Fundament für das, was wir hier Freundschaft nennen. Es geht allein um einen Nutzen, den ich sicherstellen möchte, weniger darum, was für ein Mensch diese Freundin ist und was uns miteinander verbindet – auch wenn wir nicht in Italien sind.

Sie beziehen sich in Ihrem Buch auch auf Freiherrn von Knigge, der betonte, dass in jeder Freundschaft beide Teile „gleichviel geben und empfangen können“. Basiert Freundschaft vor allem auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens? Und was ist, wenn einer mehr gibt als der andere, wenn ein Ungleichgewicht im Freundschaftsverhältnis gegeben ist?

Die Frage nach dem, was ein gutes Gleichgewicht ist, ist hier leider schwer zu beantworten, denn was ist es, was der eine gibt bzw. der andere empfängt? Vielleicht scheint es nach außen, als würde nur der eine ständig geben, letztlich aber bekommt er dadurch das Gefühl der Sicherheit, weil er gebraucht, angenommen und akzeptiert wird, in dem, was er gibt. Und so sind manche Schieflagen nur scheinbar aus dem Gleichgewicht – allerdings gehört eine gute Portion Aufrichtigkeit zu jeder Freundschaft, die sich darauf verlassen können muss, dass es zur Sprache kommt, sobald ein Ungleichgewicht für eine oder beide Seiten spürbar wird. Und das ist die eigentliche Herausforderung.

In welchen Bereichen der Gesellschaft finden sich Ihrer Meinung nach die meisten „Nutzfreundschaften“? Wodurch sind sie gekennzeichnet, und warum können sie niemals nachhaltig sein?

In Bereichen, die sich ausgewiesener maßen weniger um den Sinn von Beziehungen als vielmehr um den „Zweck“ der eigenen Handlungen drehen. Das trifft natürlich für die Wirtschaft zu, in der es darum geht, konkrete Ergebnisse zu erzielen, Unternehmen erfolgreich zu führen etc. Das trifft sicher auf politische und andere Bereiche des öffentlichen Lebens zu, in denen die Tugend der Aufrichtigkeit leider oftmals nicht sehr hoch im Kurs steht. Die Orientierung an äußeren Bedingungen, an Zwecken und Vorgaben muss aber nicht zwingend im Widerspruch zu den Kriterien der Freundschaft stehen, ganz im Gegenteil. Würden wir – und auch das ist eine alte antike Weisheit – die Freundschaft als eine wahrhaft politische Qualität wieder ernster nehmen, würden andere Entscheidungen getroffen und die Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Überlegungen anders überdacht werden. Und genau an diesem Punkt verbinden sich die Überlegungen zur Freundschaft mit den notwendigen Veränderungen einer nachhaltigen Wirtschaft und Politik.

Wie viele Freunde können wir eigentlich in unserem Leben unterbringen? Fragen Sie in Ihrem Buch. Haben Menschen, die sich über den Status und die Anzahl ihrer Freunde definieren, einen besonders ausgeprägten Wunsch nach Anerkennung? Und aus welchen Quellen speist er sich?

Auch hier sind sich die Denker über die Epochen hinweg bis heute einig, und wir wissen es ebenso aus eigener Erfahrung, dass es oft nur wenige Menschen sind, die wirklich an unserem Leben teilhaben, denen wir nicht nur helfen, sondern die wir auch um Hilfe bitten würden, wenn nachts um drei die Welt zusammenbricht. Wenn wir uns in unseren Beziehungen wohl fühlen, wenn wir darin einen Halt finden und einen guten Grund haben, auf dem wir stehen können, dann ergibt sich kaum die Notwendigkeit, in öffentlichen oder virtuellen Kontexten ein Sammelsurium von Kontakten anzuhäufen, die uns immer wieder bestätigen, wie sehr sie dies oder jenes, was wir gerade tun, essen oder lesen „liken“. Insofern spiegelt sich sicher ein besonderer Wunsch nach Aufmerksamkeit in der Suche nach mehr und mehr Freunden, gleichzeitig aber auch eine ausgeprägte Form der Einsamkeit.

Sie verweisen auch auf Niklas Luhman, der in der menschlichen Fähigkeit zu vertrauen die einzige Möglichkeit sieht, die Komplexität unseres Lebens zu reduzieren. Ist Vertrauen das wichtigste Fundament einer Freundschaft?

Ja, Vertrauen ist eine grundlegende Bedingung für Freundschaft, allerdings ist hier ein Vertrauen gemeint, das sich nicht nur auf das Gegenüber, sondern auch auf sich selbst, auf ein grundsätzliches Vertrauen in die Welt erstreckt. Daran macht sich oft genug fest, was ein Vertrauensbruch z.B. bedeutet: Wieviel Vertrauen habe ich in die Freundschaft, um meinem Freund auch einen Fehler zu verzeihen, ohne gleich Verrat zu rufen? Worauf genau vertraue ich eigentlich? Diese Fragen stellen sich, wenn wir es mit einer Freundschaft ernst meinen, die auch einmal durch schwere Zeiten hindurch muss.

An einer Stelle in Ihrem Buch erläutern Sie das Wort „Verantwortung“, das auf den lateinischen Begriff „respondere“ (eine Antwort geben) zurückgeht, der sich ähnlich auch im englischen „responsibility“ oder der französischen „responsabilité“ wiederfindet. Sie sagen, dass dieser Begriff also nicht mehr oder weniger als das schlichte „Geben einer Antwort“ bedeutet. Hat das nicht sehr viel mit Nachhaltigkeit zu tun, die ja auch nicht einfach dahingesagt sein darf?

Ja, Verantwortung passt an dieser Stelle sehr schön zu der Idee des Vertrauens, denn wenn wir Verantwortung übernehmen, gehen wir davon aus, dass das, wofür wir einstehen, worauf wir eine Antwort geben wollen, es verdient hat, einen Wert – einen Sinn hat, auf den wir vertrauen. Verantwortung schließt das Bekenntnis für das eigene Handeln und seine Folgen ein. Dies hat immer mit einer bestimmten Zuständigkeit zu tun, so wie es Karl Jaspers formulierte: „Verantwortung ist immer konkret. Sie hat einen Namen, eine Adresse, eine Hausnummer.“ Aus einer solchen Verantwortung können wir uns nicht herausstehlen, denn auch wenn wir sie nicht übernehmen, bleiben wir verantwortlich. Und das gilt in einer Freundschaft ganz besonders, was nicht heißt, dass eine Freundschaft nicht beendet werden darf, auch dafür können wir die Verantwortung übernehmen.

Wer Nachhaltigkeit nur mit äußeren Faktoren in Verbindung bringt, begreift nicht, dass er auf die Fragen des Lebens nur antworten kann, wenn er auch für das eigene Leben nachhaltig Verantwortung übernimmt und es in Beziehung setzt zu dem, was in der Welt geschieht. Wie wichtig ist es in diesem Zusammenhang, sich selbst ein Freund sein zu können?

Sehr wichtig und auch hier zeigt sich aufs Neue ein wichtiger Zusammenhang zu dem, was Nachhaltigkeit ihrem Wesen nach auszeichnet – dass wir uns immer wieder in Beziehung zu dem setzen, was wir denken und tun, uns überprüfen und versuchen, die Konsequenzen unseres Handelns mitzudenken. Um das tun zu können, brauchen wir einiges an Mut und ein gesundes „Selbst-bewusstsein“ – um uns in dem anzunehmen, was wir sind und weniger dem hinterherzulaufen, was wir gern wären. Die Freundschaft mit sich selbst beginnt mit diesem Blick auf das, was uns ausmacht, mit allen Kratzern, Schrammen und Unzulänglichkeiten, aber unter der Prämisse der griechischen „philia“, eines liebevollen, freundschaftlichen Blicks. Bei all den lauten Rufen nach Glaubwürdigkeit und Authentizität, ist diese Form des „Innehaltens“ vielleicht eine leisere, aber sehr empfehlenswerte Alternative.

Welche Rolle spielt dabei die Empathie?

Um sich selbst wirklich in den Blick nehmen zu können, brauchen wir die anderen, das andere – das, was mit dem französischen Denker Emmanuel Levinas auch immer das andere bleiben wird. Wir brauchen die Grenzen, an denen sich das konstituieren kann, was wir selbst sind. Die schönste Form, solche Grenzen zu erfahren, sind die zu einem anderen Menschen, der es gut mit uns meint, der uns sehen kann und hilft, wenn es darum geht, sich zu orientieren, oder Entscheidungen zu treffen. Dabei hilft uns die Fähigkeit der Empathie, um sich in den anderen hineinzuversetzen. Empathisch zu sein, bedeutet Nachfühlen zu können, was der andere denkt oder tut. In der Freundschaft aber geht es um mehr, sie lebt durch das, was der Philosoph Max Scheler als „Sympathie“ gegen die reine Empathie abgrenzt, ein Mitfühlen mit dem anderen, weil wir ihn aus einer ähnlichen geistigen Haltung heraus verstehen können – rational wie emotional. Dass dies nicht mit jedem Gegenüber funktionieren kann, leuchtet ein, aber es ist ein grundlegender Unterschied, ob es das Ziel ist, mein Gegenüber lesen zu lernen, um daraus auch strategische Vorteile abzuleiten, oder ob es darum geht, eine gemeinsame Ebene zu finden, um von dort aus eine Entscheidung zu finden. Ein Unterschied, der sich zu differenzieren lohnt.

Inwiefern kann Freundschaft dazu beitragen, die eigene Resilienz zu stärken, also die Fähigkeit, Schicksalsschläge aller Art von sich abfedern zu lassen und Widerstandskräfte zu mobilisieren, um schwierige Zeiten zu überstehen und dabei seinen Lebensmut nicht zu verlieren?

Resilienz ist ja eine Kraft, die uns offenbar durch die Erfahrung von Geborgenheit und Vertrauen gegeben wird, meist in frühester Kindheit, aber solche Erfahrungen mit anderen Menschen führen auch später dazu, dass wir selbst stärker und sicherer werden – gerade im Umgang mit schwierigen Situationen. Freunde zeigen sich hier auf zweifache Weise als große Helfer – zum einen „bewähren sie sich in der Not“, sie sind also einfach da, um uns zu stärken, indem sie wissen, was uns gut tut und wir ihr Wohlwollen wirklich spüren können. Und sie sind in guten Zeiten diejenigen, die uns durch ihr Wohlwollen stärken, damit wir Krisen und Schwierigkeiten anders meistern können - selbst wenn wir allein sind. Der Denker Antoine de Saint-Exupéry hat in einem Brief an seinen Freund Léon Werth das sichere Gefühl um die gemeinsame Freundschaft als einen Ort beschrieben, an dem er außerhalb seiner selbst zur Ruhe kommen, an dem er freier Atmen kann – selbst aus der Ferne des Exils. Und genau dieses Gefühl ist es, was eine Freundschaft trägt und uns so viel Kraft geben kann.

Haben Sie ein Lieblingszitat zum Thema Freundschaft, das zugleich die Kernaussage Ihres Buches spiegelt?

Es ist schwer, aus all den wunderbaren Gedanken zur Freundschaft einen herauszugreifen, Karl Jaspers aber fasst die hohe Kunst der Freundschaft sehr schön zusammen, wenn er sagt: „Ich kann nicht ich selbst werden, wenn nicht der Andere er selbst sein will; ich kann nicht frei sein, wenn nicht der Andere frei ist, meiner nicht gewiß sein, wenn ich nicht auch des anderen gewiß bin.“ In diesem lebendigen Raum zwischen mir und dem anderen findet die Freundschaft ihren Platz und dann ist sie mit Hannah Arendt - einer guten Freundin Jaspers‘ - nichts weniger als die „Grundlage aller Menschlichkeit.“

Weiterführende Literatrur:

Ina Schmidt: Auf die Freundschaft. Eine philosophische Begegnung oder Was Menschen zu Freunden macht. Ludwig Verlag 2014.

Vita:

Dr. Ina Schmidt, geb. 1973 in Flensburg, Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg, Promotion und Lehre im Bereich Philosophie bis 2004, 2005

Gründung der denkraeume, einer Initiative zur Vermittlung philosophischer Praxis, Lehrbeauftragte der Universität Rostock, Seminar- und Vortragstätigkeit, u. a. an der

Liechtenstein Academy, dem Ethik Netzwerk im Rahmen des Projekts „Gedankenflieger“ am Hamburger Literaturhaus und der brainery Hamburg. Ina Schmidt ist Autorin philosophischer Sachbücher und lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in Reinbek bei Hamburg.

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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