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© SDI Productions/Getty Images

Warum ist Fachkräftemangel nicht so peinlich wie Kundenmangel? 17 Millionen Fachkräfte sind offen für Angebote!

Ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit 1991 kontinuierlich gesunken von 45 Millionen auf 38 Millionen Menschen? Oder ist die Zahl seit 1991 von 38 Millionen auf über 45 Millionen Erwerbstätige heute gestiegen? Die Auflösung folgt.

Omnipräsent ist der Fachkräftemangel. Viele Unternehmen leiden unter einem Mangel an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für sie scheint der Markt wie leergefegt zu sein. Doch das ist nur eine Seite der Medaille.

Wechselwillig für gutes Angebot

Immer mehr Menschen wechseln ihre Jobs. Dadurch gibt es immer mehr Bewegung im Arbeitsmarkt und Fachkräfte, die auf der Suche nach attraktiven Firmen sind. Und noch viel mehr Menschen wären wechselwillig, wenn sie ein gutes Angebot bekämen.

Forsa hat 2022 im Auftrag von Xing Erwerbstätige befragt und kam zu dem Ergebnis, dass 38 Prozent der weiblichen und 37 Prozent der männlichen Befragten an einem Wechsel ihrer Arbeitsstelle interessiert sind. Das ist gut jeder dritte Erwerbstätige. Doch die wenigsten suchen aktiv.

17 Millionen Menschen sind wechselwillig. Was für eine gigantische Chance!

Weil sie nicht aktiv suchen, werden Firmen die Ansprache umdrehen müssen. Die Unternehmen, die aktiv auf wechselwillige Fachkräfte zugehen, haben die größten Chancen. Ich hoffe, dass niemand meint, Stellenanzeigen seien ein aktives Zugehen. Nein! Das ist Spiel mit dem Zufall.

Hier zeige ich 44 konkrete Beispiele für kreative Aktionen im Recruiting, die Firmen bereits erfolgreich durchgeführt haben.

Kundenmangel in allen Medien

Leider steht der dauerhafte Kundenmangel der Fachkräftegewinnung im Weg. Täglich stehen diese hoffnungslosen Schlagzeilen in allen Medien:

  • Kundenmangel bremst digitale Transformation massiv aus.

  • Kundenmangel erschwert Klimaschutz.

  • In der Holz- und Möbelindustrie verschärft sich der Kundenengpass weiter.

  • Kundenmangel bleibt die größte Sorge der Unternehmen.

Das sind typische Schlagzeilen, wie man sie seit Jahren in den Medien findet. Oder? Äh, sorry, da stimmt etwas nicht!

Ersetzt man aber das Wort „Kunde“ durch „Fachkräfte“, passt es wieder. Über den Fachkräftemangel wird öffentlich geklagt, und zwar täglich seit 1984. Über Kundenmangel liest man dagegen so gut wie nie etwas. Diese Blöße will sich keine Branche und kein Unternehmen geben.

Fachkräftemangel so peinlich wie Kundenmangel

Warum ist Fachkräftemangel nicht so peinlich wie Kundenmangel? Unternehmen, die vergeblich nach Fachkräften fahnden, sollten überlegen,

  • ob ihr Angebot attraktiv ist,

  • ob ihre Unternehmenskultur magnetisch anzieht,

  • ob sie auf Bewerbungen schnell und wertschätzend reagieren und

  • ob sie ihre Suche nach Kolleginnen und Kollegen regelmäßig den neuen Rahmenbedingungen anpassen.

Wenn ein Unternehmen oder eine Branche Fachkräftemangel beklagt, dann ist das nichts anders als ein Kundenmangel. Nur mit einer besonderen Zielgruppe.

Bei Kundenmangel reagieren Unternehmen professionell und verbessern ihr Angebot und ihr Marketing. Wenn es hingegen zu wenig Bewerber für offene Stellen und Ausbildungsplätze im Unternehmen gibt, dann beklagen sich Unternehmen und Verbände öffentlich.

Fachkräftereichtum

Nun die Auflösung zu der Frage eingangs: Seit 30 Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen kontinuierlich von 38 Millionen 1991 auf über 45 Millionen Erwerbstätige heue gestiegen. In Zeiten von Fachkräfte-Rekordzahlen finde ich den Begriff „Fachkräftemangel“ irreführend. Wir sollten von Fachkräftereichtum sprechen.

Die relevante Frage lautet: Sind die Fachkräfte in deinem Unternehmen, oder arbeiten sie woanders?

Die absolute Mehrheit der potenziell passenden Fachkräfte hat sich noch nie in deinem Unernehmen beworben. Das gilt für alle Unternehmen – auch für mich und meine Unternehmen! Also liegt der Ball bei uns Unternehmerinnen und Unternehmern, aktiv zu werden.

Fachkräftemangel ist nichts anderes als Ideenmangel in der Kunden-Akquise – äh, nein, in der Fachkräftegewinnung.

Es gibt kein Recht auf Bewerbungen und auch kein Recht auf Fachkräfte. Gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen ist ein Wettbewerb. Genauso wie der um Kunden.

Dass Unternehmen, die nicht proaktiv auf Bewerberinnen und Bewerber zugehen, heute weniger Bewerbungen bekommen, ist kein Wunder. Clevere Unternehmen kennen keinen Mangel. Sie gehen neue Wege.

Keine Prognose traf ein

Man sollte sich auch nicht von Prognosen beirren lassen. Seit Jahrzehnten sorgen sie für reißerische Schlagzeilen zum sogenannten Fachkräftemangel. Schon 2015 berichtete der Spiegel: „Was wurde aus dem Fachkräftemangel? Frühere Prognosen lagen gewaltig daneben.“ Keine der Prognosen und Hochrechnungen, die Meinungsforschungsinstitute 2009 auf den Markt gebracht hatten, waren bis 2015 eingetroffen. Keine einzige.

Slack wurde 2013 gegründet. Mit diesem und ähnlichen Tools arbeiten Teams weltweit zusammen, und die Fachkräftegewinnung ist nun nicht mehr auf ein Land beschränkt. Alle Prognosen zum Fachkräftemarkt, die vor 2013 veröffentlicht wurden, haben die Internationalisierung nicht in ihre Rechnung aufnehmen können.

Gleichzeitig erzählen mir Headhunter seit zehn Jahren, dass 80 bis 90 Prozent der deutschen Unternehmen nicht bereit sind, englischsprachige Software-Entwickler einzustellen. Das ist eine extreme Selbstbeschränkung. Ich nenne das einen hausgemachten Mangel.

Ein weiterer Trend findet sich in keiner Prognose: Auf Low-Code- und No-Code-Plattformen ist Programmierung so einfach, dass auch Menschen ohne Programmierkenntnisse sie anwenden können: „Die Zahl der Low-Coder soll bis 2023 viermal so hoch sein wie die der professionellen Entwickler. Bis 2024 wird die Methode für mehr als 65 Prozent der Entwicklungsaktivitäten verantwortlich sein.“

Die Welt ist im Wandel. Behandle Prognosen mit Vorsicht. Wer kennt Prognosen zum Fachkräftemangel, die so komplexe Entwicklungen der Märkte berücksichtigt haben? Bitte meldet euch. Ich lasse mich gern positiv überraschen.

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Kommentare

Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

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