Was bedeuten Anstand und Sitte des Ehrbaren Kaufmanns heute?
Interview mit dem Unternehmensexperten und Autor Frederik D. Tunnat
"Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können”, lässt Thomas Mann den Gründer des Familienunternehmens Buddenbrook, Jean, in seinem Roman “Buddenbrooks. Verfall einer Familie” sagen. Was können Unternehmer und Führungskräfte von diesem Roman lernen?
Ob man heute, im 21. Jahrhundert, angesichts von Schlagworten wie Digitalisierung und Industrie 4.0 vom gesamten Roman noch etwas lernen kann, ist fraglich. Der Mann‘sche Roman repräsentiert ja das Ideal des bürgerlichen Zeitalters, als Beruf und Familie unter einem gemeinsamen Dach stattfand, und nicht ohne triftigen Grund lässt Thomas Mann ihn ausklingen mit dem Verfall der Familie, was in diesem Fall identisch mit dem Ende des Familienunternehmens ist.
Vom zitierten Geschäftsprinzip jedoch kann und sollte jeder heutige Manager und Unternehmer für das eigene Handeln die richtigen Schlüsse ziehen. Obwohl das Wort „Moral“ im Zitat überhaupt nicht auftaucht, schwebt es sozusagen über ihm. Denn nur moralisch integres Agieren und Handeln ließ und lässt Menschen, speziell solche, die Verantwortung für Unternehmen tragen, ruhig schlafen.
Der zentrale Unterschied zwischen den früheren ehrbaren, bürgerlichen Kaufleuten, überwiegend selbständige Handwerker und Unternehmer, und heutigen angestellten Managern besteht darin, dass früher Unternehmer volles Risiko für ihr Unternehmen, ihren Betrieb trugen. Manager hingegen haften in den meisten Fällen nur für „schuldhaftes“ Verhalten, ein so schwammiger Begriff, dass es selten auf seiner Basis zu Verurteilungen kommt, selbst wenn ein Unternehmen ausgeplündert, gegen die Wand gefahren, oder bis in den Bankrott getrieben wurde. Zudem lassen sie sich durch Millionenschwere Risikoversicherungen gegen jedwede finanzielle Inanspruchnahme absichern.
Wohin führt das?
Das zeigen sämtliche überdimensionale Finanzdebakel auf internationaler, nationaler wie unternehmensinterner Ebene der letzten Jahrzehnte: Es wird auf Teufel komm raus gezockt, und Billionenwerte werden auf Kosten der Allgemeinheit oder der Aktionäre buchstäblich versenkt. Persönliche Haftung nahezu Null. Der ehrbare Kaufmann früherer Zeiten hätte sich in solch einer Situation die Kugel gegeben, wäre jedenfalls im Boden versunken, da er sich persönlich verantwortlich fühlte und haftbar war.
Im Jahr 1956 wurden die IHKs vom Gesetzgeber beauftragt, für „Anstand und Sitte des Ehrbaren Kaufmanns“ zu wirken. Was bedeutet das im heutigen Unternehmenskontext?
Nun, 1956, also vor über 60 Jahren, etwas völlig anderes, als heute. Damals hatten zwar die GmbHs, die KGs, vornehmlich die GmbHs & Co. KGs begonnen, durch ausgefuchste Gesellschaftsverträge das so genannte unternehmerische Risiko der Besitzer, Inhaber und/oder Gesellschafter so zu minimieren, dass deren persönliche Haftung gegen Null tendierte, sprich auf die gesetzliche Haftsumme für GmbHs beschränkt war. Vermutlich sollte diese ethische Reaktion der IHKs dem befürchteten und tatsächlich – im Verhältnis zur gesunkenen Haftung – eintretenden moralischem Verfall des kaufmännischen Kodex entgegenwirken. Das ist aus meiner Sicht gründlich in die Hose gegangen.
Warum?
Das Geschäftsgebaren deutscher Firmen kann sich nach meinem Dafürhalten längst nicht mehr als das ehrbarer Kaufleute bezeichnen und verstehen. Allein der Bereich der extrem gesunkenen Zahlungsmoral hat in den Jahrzehnten seit 1956 eine Vielzahl Unternehmen ohne jegliches unternehmerisches oder persönliches Verschulden in die Insolvenz getrieben. Solches Verhalten gegenüber Geschäftspartnern verböten die Handlungsweisen des ehrbaren Kaufmanns. Oder das, was das seinerzeitige Management dem Daimler-Konzerns mit und nach der unternehmerisch völlig sinnlosen Übernahme des Chrysler-Konzerns antat, hätte nach den Prinzipien ehrbarer Kaufleute mit Haftstrafen enden müssen. Statt dessen spülte dieser Skandal, der die Rendite des Konzerns für anderthalb bis zwei Jahrzehnte nachhaltig schädigte, nicht nur den bis vor Kurzen amtierenden Konzernboss Zetsche empor – wiewohl er maßgeblich involviert und verantwortlich war – sondern, was der eigentliche Anlass für dieses Husarenstück gewesen war, bescherte er dem Vorstand endlich US-amerikanische Vorstandsbezüge.
Ehrbare frühere Kaufleute haben es verstanden, man nehme als Beispiel Robert Bosch – selbst ihre Bezüge prächtig zu gestalten, ohne deshalb ihre Mitarbeiter und Aktionäre bluten zu lassen, wie im Fall Daimler-Chrysler. Denn ein Robert Bosch sah sich als Hausvater, Patriarch seiner tausendfachen Mitarbeiter, und wie ein Hausvater oder eben ehrbarer Kaufmann, war sein Handeln darauf gerichtet, zunächst für seine Mitarbeiter zu sorgen, dann die Interessen der Geschäftspartner zu berücksichtigen, bevor er sich über das Verbliebene für persönliches Verfügen hermachte. Mit dieser altbacken-ehrbar, schwäbischen Methode fuhr nicht nur der Bosch-Konzern jahrzehntelang hervorragend; zahllose schwäbische Unternehmen eiferten Bosch nach und begründeten so den legendären Ruf dieser Region. Dass sich die Dinge, trotz hervorragender äußerer Bedingungen unter dem Bosch Nachfolger Merkle drastisch verschlechterten, ging mit der Aufgabe der Prinzipien der ehrbaren Kaufleute einher.
Insofern hatte die IHK seinerzeit eine nahezu prophetische Gabe, doch war die angestoßene Maßnahme, wie sich zeigt, alles andere als wirkungsvoll genug, um die Veränderung des geschäftlichen Gebarens aufzuhalten, oder weiter im Sinn des ehrbaren Kaufmanns zu gestalten. In den skandinavischen Ländern hielt sich die Tradition des ehrbaren Kaufmanns – eventuell wird sie innerhalb der Länder noch immer praktiziert – weit länger als in Deutschland.
Können Sie ein persönliches Beispiel geben?
So erregte meine Bitte, angesichts der Bestellung von 27 Fenstern in Dänemark für mein Haus in Deutschland, den damit verbundenen Kontrakt schriftlich zu besiegeln, noch im Jahr 1982 missliebiges Stirnrunzeln des Geschäftspartners. Der beschied mich, es sei eine Beleidigung an seiner geschäftlichen Aufrichtigkeit zu zweifeln, da es in Dänemark üblich sei, derartige Geschäfte per Handschlag zu besiegeln. Ich zweifelte nicht an seiner Aufrichtigkeit, zumal damals ein Großteil dänischer Hausbesitzer nicht einmal ihre Häuser absperrte, wenn sie zur Arbeit gingen. Es ist mir mehrfach passiert, wenn ich Dänen besuchen wollte, dass ich durch die offene Haustür eintreten konnte, obwohl niemand zu Hause war.
Ehrbares Handeln setzt offenbar voraus, seinem Gegenüber, beruflich wie privat zunächst generell zu vertrauen. Umgekehrt muss dieses Vertrauen natürlich erwidert werden, indem man nur das vereinbart und das zusagt, was man guten Gewissens (um nachts schlafen zu können) halten kann. Heute lachen, davon bin ich zutiefst überzeugt, das Gros von Geschäftspartnern in Deutschland, der EU wie International ob solch naiver, treuherziger Vorstellungen nur noch mild. Die Zeiten des ehrbaren Kaufmanns sind vorbei.
Woran zeigt sich das?
Das zeigt sich vor allem daran, wie sich Unternehmen ihren vorhandenen wie potentiellen Arbeitnehmern gegenüber verhalten. Ehrbare Kaufleute würden niemals Mitarbeiter zu Hungerlöhnen unter Verträgen beschäftigen, die diese zu abhängigen Lohnsklaven degradieren. Leiharbeit, unter Mindestlohn Bezahlung, nichts davon wäre denkbar. Hartz IV und Armutsrenten sind die augenfälligen Resultate und Folgen des Verfalls der Sitten und Gebräuche, auch und gerade im geschäftlich-unternehmerischem Bereich. Ehrbare Kaufleute und Politiker würden so etwas niemals dulden!
Da Unternehmer zunehmend global agieren, wachsen auch die Anforderungen und Ansprüche an kleine und mittlere Unternehmen. Welche Veränderungen und Prozesse sind damit verbunden?
Ich werde den Eindruck nicht los, dass eine Art „Babylonische Sprachverwirrung“ im Bereich von Politik und Wirtschaft herrscht. Nur weil wir in den 70er/80er Jahren begonnen haben, den Begriff Globalisierung (Globalisation) samt dessen anglikanischen Begrifflichkeiten in unseren Wortschatz zu übernehmen, heißt dies nicht, dass sich de facto tatsächlich damals bis heute wirklich so Vieles oder Maßgebliches für Mittelständler änderte.
Wie ich aus der Firmengeschichte derjenigen Unternehmen weiß, die während des 19. und 20. Jahrhunderts von meinen früheren Familienangehörigen gegründet, aufgebaut, geführt und zeitweise zu Weltmarktführern ihrer Branchen gemacht wurden, existierte das, was heute „Globalisierung“ genannt wird, längst. So waren für diese Firmen der US-amerikanische, der britische, der europäische Markt, ja seinerzeit sowohl das Baltikum wie das russische Zarenreich bereits sehr gute, intensive Abnehmer der Erzeugnisse und Waren dieser Firmen. Zudem waren diese Firmen kurz vor bzw. nach dem Ersten Weltkrieg bereits international aufgestellt, d.h. verfügten über internationale Geschäftspartner oder Zweigwerke in Großbritannien, Österreich-Ungarn, der Schweiz, Frankreich.
Worin bestand der entscheidende Unterschied zur heutigen Interpretation von Globalisierung?
Er bestand darin, dass die Geschäfte damals nach den Grundsätzen ehrbarer Kaufleute geführt wurden. D.h., man ließ sich nicht auf törichtes gegenseitiges Ausspielen von Konditionen, Löhnen, Steuern etc. ein, sondern wickelte alles seriös entsprechend der jeweiligen Gesetzgebung der Länder, in denen man aktiv war, ab. Es gab kein Lohndumping – im Gegenteil, gehörten mehrere damalige Familienunternehmen zu denen, die freiwillig die damals unmenschlichen Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter reduzierten (auf acht bis zehn Stunden), die, statt sich auf Kosten ihrer Mitarbeiter (wie heute im Zuge der falsch verstandenen Globalisierung üblich) zu bereichern, diesen weit übertarifliche bzw. branchenübliche Löhne zahlten, sich sozial für ihre Mitarbeiter verantwortlich fühlten, indem sie Werkswohnungen und Häuser errichteten, auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter durch Werksärzte Wert legten, die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie förderten, die Arbeitsplätze so gesund und umweltverträglich einrichteten, wie damals möglich, kurzum, die eine echte Partnerschaft mit ihren Mitarbeitern auf gleichberechtigter Ebene suchten, statt sie nach allen Regeln eines entseelten, missverstandenen Kapitalismus auszubeuten, zu erniedrigen und zur maßlosen Steigerung des eigenen Profits zu missbrauchen.
Ich kann, wenn ich mir die geschäftlichen Aktivitäten der damaligen Firmen, ihr internationales Agieren, ihre Marktorientierung, ihr Zusammenspiel mit internationalen Geschäftspartnern wie innerhalb der Unternehmensverbünde ansehe und mit heutigen Geschäfts- und Wirtschaftsbedingungen vergleiche, keinerlei Unterschiede im Sinne von Globalisierung feststellen - außer der aufgezeigten, im sozialen, moralisch-ethischen Bereich.
Wie agierten Ihre Vorfahren?
Sie agierten wie honorige, ehrbare Kaufleute. Statt, wie heute im Zusammenhang mit Globalisierung behauptet, dass nur Lohndumping, die Einführung der schlechtesten Dritte-Welt-Standards, unter nicht ökologischen Produktionsbedingungen die Konkurrenzfähigkeit gewährleisten könne, haben meine Vorfahren durch die Bank, auf unterschiedlich hohem sozialem Niveau bewiesen, dass es möglich war, für außerordentlich faire Arbeits- und Produktionsbedingungen zu sorgen, die Waren für Preise anzubieten, die einer breiten Käuferschicht deren Erwerb ermöglichte, und zugleich dennoch als Unternehmer und Eigentümer so viel vom gemeinsam erwirtschafteten Profit behalten zu können, dass ein beachtlicher Wohlstand erreicht wurde.
Begriffe wie Nachhaltigkeit und CSR werden oft phrasenhaft verwendet. Weshalb ist der Ehrbare Kaufmann davon weniger betroffen, weil es sich um ein konkretes Leitbild handelt?
Die „neumodischen“ Begriffe wie Nachhaltigkeit und CSR werden meines Erachtens ähnlich inflationär wie falsch verwendet, wie am Beispiel Globalisierung beschrieben. Kein früheres Unternehmen, gleich, ob Handwerksbetrieb oder Fabrik, konnte in früheren Zeiten dauerhaft, „nachhaltig“ überleben, wenn es nicht nachhaltig wirtschaftete. Ober weshalb glauben sie, war es gerade handwerklichen und kleineren, inhabergeführten Betrieben in Deutschland möglich, nicht nur über 2,3 Generationen, sondern über mehr als 100 bis über mehrere hundert Jahre als Familienbetrieb zu existieren?
Ganz sicher nicht, indem sie nicht nachhaltig agiert und produziert hätten, sicher nicht, indem sie die örtlichen, regionalen oder überregional-internationalen Bedingungen im Sinn und Interesse ihrer Kunden, ihrer Mitarbeiter, wie der sie umgebenden Kommune und des Staates, in dem sie tätig waren, im Sinn des heutigen, aus dem Englischen entlehnten Begriffs „CSR“ anzuwenden und umzusetzen. Für mich stellen die heute so im Schwange befindlichen fremdsprachlichen „Fach“-Begriffe nicht viel mehr dar, als eine Art Nebelrakete, die dazu angetan ist, mit viel Brimborium jahrzehnte-, oft jahrhundertealte Traditionen schlicht mit anderen, oft dafür falsch verstandenen oder gar bewusst falsch ausgelegt und angewandten Begriffen zu versehen, um damit den Verfall der kaufmännischen wie gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche zu verschleiern.
Wie können Anstand, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Verantwortung als Grundsätze wirtschaftlichen Handelns der Marktwirtschaft wieder zu einer besseren Reputation verholfen werden?
Sehr einfach: indem sich die Marktteilnehmer, vornehmlich Manager und Inhaber von Firmen und Konzernen anständig, ehrlich, verlässlich und verantwortlich benehmen, statt egoistisch ausschließlich auf die Mehrung des eigenen Reichtums bzw. Vorteils um jeden Preis zu schielen. Und sich wieder mehr auf die Prinzipien und Regeln ehrbarer Kaufleute verlassen bzw. diese im Geschäftsbetrieb anwenden. Wer sich so verhalten würde wie Senator Buddenbrook, nämlich seine Geschäfte stets so abzuwickeln, dass er nachts ohne Alpträume und/oder Psychopharmaka schlafen kann (Stichwort ruhiges Gewissen), der würde automatisch gemäß der Begriffe aus Ihrer Eingangsfrage agieren.
Weshalb scheitern Unternehmen meistens an einer fehlenden Wertekultur, an mangelnder Lernbereitschaft und an einer eindeutigen Identität (Einheit von Gedanke, Wort und Tat)?
Nun, ich möchte ungern verallgemeinern, und alle Unternehmen und Unternehmer oder Manager über einen Kamm scheren. Sicher gibt es seltener ein branchentypisches, länderspezifisches Scheitern von Unternehmen, als vielmehr individuelles. Zu diesem tragen in der Regel Manager, sprich je Unternehmensform Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführer usw. spürbarer und signifikanter bei, als beispielsweise Mitarbeiter. Man kann noch so viele und schön gestaltete Hochglanz-Prospekte mit hochtrabenden hohlen Phrasen unters Volk bringen; so lange Belegschaft und Management nicht an einem Strang ziehen und unter den gewählten Begriffen (Firmenmotto) nicht dasselbe verstehen und leben, existiert keine Unternehmenskultur.
Mich hat von Kindesbeinen an stets beeindruckt, dass meine Großväter (sowie mit Abstrichen mein Vater) in ihren Unternehmen deren Kultur prägten und verkörperten. So gehörte für sie dazu, täglich durch den eigenen Betrieb zu gehen, durch sämtliche Abteilungen, zu sämtlichen Mitarbeitern. Diese hatten, wie schon zu Urgroßvaters Zeiten, dabei Gelegenheit, mit dem Boss persönlich zu sprechen, ohne jegliche zwischen geschaltete Hierarchie. Dabei konnten Beschwerden über Vorgesetzte und Kollegen ebenso vorgebracht werden, wie familiäre und persönliche Probleme. Jeder einzelne Mitarbeiter würde ernst genommen, baute im Lauf der Zeit eine persönliche Beziehung und ein Vertrauensverhältnis auf, und Großvater oder Vater nahmen sich die nötige Zeit für jeden. Dadurch baute sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine „Loyalität“ auf, die ich in manchen Firmen, in denen ich tätig war nicht vorfand und vermisste.
Was haben Sie selbst von dieser unternehmerischen „Familientradition“ übernommen?
Dieses: in jeder Firma, in der ich im Management Verantwortung trug, gehörte für mich als Teil meiner individuellen Einarbeitung dazu, jede im Unternehmen ausgeübte Tätigkeit persönlich mindestens einen Tag lang selbst ausgeführt zu haben. Nur so, davon bin ich überzeugt, kann man als Manager ein Gefühl dafür entwickeln, ob und wann man Mitarbeiter überfordert. Nur so war es mir möglich, über das Ausmaß von Personaleinsparungen und Kostenreduzierungen zu entscheiden. Genau die beiden entscheidenden Stellschrauben in der heutigen globalisierten Welt, mit denen über die Existenz teilweise tausender Mitarbeiter entschieden wird, und der Basis für eine betriebswirtschaftliche Gesundung „kranker“ Unternehmen.
Was soll eine verantwortliche Führungskraft davon halten, wenn vordergründig eine flache Hierarchie eingeführt wird, gleichzeitig unseriöse Ziele diktatorisch vorgegeben werden?
Die Abschaffung des Managements, Reduzierung ihrer Privilegien (Eckbüro, Assistentin, Sekretärin), gemeinsamer Arbeitsplatz mit Mitarbeitern im Großraumbüro, würde im Zusammenhang mit einem ehrlichen Wertekodex voraussetzen, dass Entscheidungen, zu denen z.B. auch die Umsatz- und Renditeziele gehören, entsprechend „demokratisch“, sprich gemeinsam mit allen Mitarbeitern, entwickelt werden, statt wie üblich vorgegeben zu werden. Dies würde stichhaltige Argumente, Überzeugung, sowie Einfließen aller relevanter Größen bedingen. Tatsächlich wurde die aberwitzige Rendite (18%) weiter diktatorisch von einem Vorstandsvorsitzenden vorgegeben, der selbstverständlich nach wie vor nicht nur sein eigenes riesiges Büro beibehielt, sondern sich auf Geschäftskosten auf dem Dach des Bürohauses ein überaus exklusives Penthaus bauen ließ. Das nenne ich fehlende Wertekultur.
Welche Rolle spielt in diesem Kontext „mangelnde Lernbereitschaft“?
Üblicherweise zielt der Begriff „mangelnde Lernbereitschaft“ auf Arbeitnehmer, denen üblicherweise ebendiese unterstellt wird. In Bezug auf ein Unternehmen ist mangelnde Lernbereitschaft z. B. gegeben, wenn wertvolle, gut ausgebildete weibliche Mitarbeiterinnen wegen einem oder mehreren Kindern das Unternehmen zeitweise oder gänzlich verlassen müssen. Zahlreiche meiner früheren weiblichen Mitarbeiterinnen bis zu Führungskräften ließen mich wissen, dass sie liebend gern ihre berufliche Karriere im Unternehmen mit ihrer Elternschaft in Einklang bringen würden. Dazu wäre es notwendig gewesen, einen betriebsinternen Kindergarten einzurichten. Alle Voraussetzungen dafür waren gegeben. Es gab geeignete Räumlichkeiten, es gab genug qualifizierte Bewerberinnen, es gab die Zusagen hoch qualifizierter Mitarbeiterinnen, im Unternehmen zu verbleiben bzw. nach einer relativ knapp bemessenen Elternzeit ihre Tätigkeit fortführen zu wollen, sofern das Unternehmen ihnen mit dem hausinternen Kindergarten die Sicherheit gegeben hätte, permanent für ihre Kinder in Notfällen erreichbar zu sein.
Allein die Kosten für die Suche und Einarbeitung adäquater Mitarbeiterinnen hätte höhere Kosten verursacht als der betriebsinterne Kindergarten. Dennoch verweigerten Vorstand und Aufsichtsrat die nötigen Mittel. Geld war für das Penthaus des Vorstandsvorsitzenden da, etwa dreimal so viel wie für die Einrichtung des Kindergartens, und auch das Geld für die Suche und Einarbeitung neuer Mitarbeiter. Das nenne ich mangelnde Lernbereitschaft.
Die Einheit von Gedanken, Wort und Tat war in den von Ihnen genannten Beispielen nicht gegeben…
Das trifft auf das beispielhafte Unternehmen zu, wie auf einen großen Teil von Unternehmen in Europa. Die Hochglanzbroschüren, die überaus gelungene Phantasieformulierungen „gelebter“ Unternehmenskultur unters Volk bringen, sind weder ihr Geld, noch des Lesens wert. Mitarbeiter haben im Allgemeinen ein überaus feines Gespür dafür, wo hochtrabende Lippenbekenntnisse nicht durch angewandte, gelebte Unternehmenskultur bestätigt werden. Besonders die sehr fähigen, engagierten suchen beizeiten das Weite. So auch im Fall dieses Unternehmens, einem jahrzehntelangen Marktführer seines Bereichs. Ich gehörte zu jenen, die gingen. Binnen zehn Jahren nach meinem Fortgang wechselte das Unternehmen zwei Mal den Besitzer und existiert inzwischen nur noch als hohler Mantel mit seinem ehemaligen Namen, während ein früherer Konkurrent der ungut-unschönen Art inzwischen das Sagen hat und weitgehend seine Produkte an die verbliebenen Kunden des einstigen Marktführers verscherbelt.
Ein nicht etablierter Kindergarten, ein nutzloses Penthaus und eine unrealistische Umsatzrendite, um als Vorstandsvorsitzender vor den Eigentümern und Anteilseignern zu glänzen – d.h. egoistisches Gewinnstreben und Eigennutz haben ein hochprofitables, namhaftes Unternehmen binnen vier, fünf Jahren unter die Räder gebracht. Das kennen wir ja von anderen Beispielen – KarstadtQuelle (später Arcandor). Da hieß der Vorstandsvorsitzende Middelhoff. Wie in meinem Beispiel jemand, der den persönlichen Hals einfach nicht voll genug bekam. Gebüßt haben dies tausende unschuldige Mitarbeiter mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, in vielen Fällen ihres persönlichen Lebenswerks. In meinem Beispiel waren es „bloß“ ein paar hundert. So viel zu den ehrenwerten Kaufleuten unter Deutschlands Managerelite. Ich könnte unendlich weitermachen, mit mir persönlich bekannten Beispielen aus 30 Jahren Erfahrung im Management. Ich unterlasse es, um uns allen nicht die gute Laune dauerhaft zu verderben.
Welche Bedeutung hat das Thema Ehrbarer Kaufmann für Sie persönlich? Welche Assoziationen verbinden Sie mit dem Attribut „ehrbar“ auch im Kontext Ihrer Familiengeschichte?
Vieles ist bereits beantwortet. Ich habe und hatte das Glück, in eine Familie hinein geboren bzw. durch Verschwägerung aufgenommen worden zu sein, die, soweit ich meine Familiengeschichte kenne und zurückverfolgen kann, über Generationen Selbständigkeit und Unternehmertum einer angestellten oder verbeamteten Existenz vorzog. Während es sich überwiegend um freie Bauern auf eigenen Höfen oder Handwerksmeister mit eigenem Meisterbetrieb handelte, zeigte sich bei meinen Vorfahren ab Ende des 18., sowie sehr ausgeprägt im Lauf des 19. Jahrhunderts, ein Hang zu unternehmerischer Betätigung. Ein Vorfahr, er war Tuchweber-Meister, nutzte die Gunst der Stunde, die sich nach der Französischen Revolution und den daraus folgenden Kriegen und daraus resultierendem Bedarf an Uniformen ergab, eine Tuchfabrik mit hunderten stationären und externen Webstühlen aufzubauen. Für über zwei Jahrzehnte war er ein überaus wohlhabender Mann, dem das Scheitern Napoleons, sowie in Folge der Restauration die auf den Markt schwemmenden englischen, billig industriell erzeugt, wirtschaftlich das Genick brachen. Er scheiterte weniger an seinem unternehmerischem Können, als vielmehr an den abrupt geänderten „globalen“ Marktbedingungen, die ihm keine Zeit für Anpassung ließen. Er machte Bankrott und starb verarmt.
Das 19. Jahrhundert brachte durch die sich radikal verbessernden Wirtschafts- und Marktbedingungen – nationale und wirtschaftliche Zusammenschlüsse, Zollvereinigungen, einheitliche Währung, technische Errungenschaften, neue Produkte und Produktionsmethoden, hohes Investitionskapital - eine geradezu ideale Gründungsphase (heute sind das Startups), die mehrere meiner Vorfahren in den Bereichen Bauindustrie, Freizeit/Hotelgewerbe, Lederverarbeitung, Möbel, Photographie, Steinbrüche, Textilien, Tonwerke animierten, sich selbständig zu machen und einzelne Unternehmen wie ganze Industriezweige aufzubauen.
Waren es alles ehrbare Kaufleute?
Soweit ich das anhand der mir zur Verfügung stehenden familiären wie firmengeschichtlichen Unterlagen beurteilen kann, agierte erstaunlicherweise keiner meiner, aus mehreren Familienzweigen hervorgegangenen Vorfahren, wie man es gemeinhin über das 19. Jahrhundert liest, als brutaler Kapitalist. Soweit ich das überblicken kann, schwenkten alle familiären Unternehmer früher oder später auf eine Position ein, die sich mit der eines ehrbaren Kaufmanns deckt: sie zeigten soziales Engagement für ihre Mitarbeiter, billigten diesen sowohl faire Löhne wie fortschrittliche Arbeitsbedingungen zu (10/8 Stunden Tag), entwickelten freiwillige Bonus-Systeme, um die außerordentlich hohen Profite zumindest zu nennenswerten Teilen mit ihren Belegschaften zu teilen, statt alles selbst einzustreichen.
Einer der Ur-Großväter entwickelte, gemeinsam mit seiner Frau, jene spezielle Form des „aufgeklärten Patriarchen“, d.h. er begann bereits Anfang der 1880-er Jahre täglich durch seine Fabrik zu gehen, um sich sowohl um persönliche Probleme der Mitarbeiter, wie um Produktionsprobleme vor Ort an jedem Arbeitsplatz zu kümmern. Dies wurde zu einer Familientradition und von meinem Vater bis zu seinem Tod fortgeführt. Ähnlich wie es Thomas Mann mit Bezug auf die fiktive Familie und Firma Buddenbrook aufzeigte, vergeistigte bzw. „verweichlichte“ die Nachkommenschaft, die Erbengeneration(en). Daher befinden sich mittlerweile sämtliche Firmen, die aus unserer Familie hervorgingen, und zum Teil knapp 200 bis 150 Jahre alt sind, in Händen neuer Besitzer. Während in einem Fall die einsetzende Globalisierung als Grund dafür herhalten musste, dass der Betrieb nach Erwerb eingestellt, der Grundbesitz umfassend und gewinnbringend vermarktet wurde, erfreut sich eine der Firmen unter ihrem neuen Eigentümer anhaltenden Erfolgs.
Interessanterweise übernahm der neue Eigentümer eine Reihe der alten Traditionen, darunter all jene, die ehrbare Kaufleute auszeichnen. Die Belegschaft, die teilweise in dritter, vierter Generation im Betrieb tätig ist, übertrug ihr gewachsenes Vertrauen wie ihre Loyalität gegenüber Firma und Produkten auf den neuen Eigentümer.
Weshalb war das ein Glücksfall?
Noch heute, mehr als 150 Jahre nach Gründung, wird nach den in unserer Familie entwickelten hohen Qualitätsstandards produziert, Belegschaft und Inhaber bilden eine Einheit und erfüllen ohne jegliche Einschränkung sämtliche Anforderungen, die unter dem Begriff CSR laufen. Dazu wurde gewaltig in modernste Technik investiert, die neu erbaute Fabrik produziert „gläsern“ - sprich offen - gegenüber der Gesellschaft und Kommune, setzt auf erneuerbare Energie, arbeitet ressourcenschonend und nachhaltig, und zählt weiterhin zu jenen Firmen, die übertarifliche Entlohnung mit fairen Arbeitsbedingungen und höchsten Qualitätsstandrads verbindet.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
Frederik D. Tunnat, geboren 1953 in Göttingen, wuchs in Stuttgart auf. Er absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Betriebswirtschaftslehre in Berlin und London. Er war tätig als Buchhändler, Redakteur, Vertriebs- und Marketingleiter, Leiter Profitcenter; seit 2002 als Schriftsteller. Seit 2009 ist er Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller/innen.