Was es bedeutet, im Augenblick zu sein
Dieser Augenblick ist alles, was wir haben, und deshalb sollten wir uns achtsam auf ihn konzentrieren und keine Gedanken auf die Vergangenheit oder Zukunft zu verwenden. Wörtlich genommen dauert ein Augenblick sechs Sekunden – dies ist die Zeitspanne, in der durchschnittlich die Augenlider einmal blinzeln. Nach jedem Blinzeln sehen wir die Welt anders. Täglich bedeutet das, etwa 5000-mal neu zu sehen.
In jedem Augenblick haben wir neu die Möglichkeit, uns willentlich zu dem zu entschließen, was wir gerade tun
Es wird etwas ent-schlossen, was vorher ver-schlossen war: das Selbst. Es hilft nichts, Ist-Zustände zu beklagen, denn es ist, wie es ist. Schon Goethe schrieb in seiner „Italienischen Reise“ (Zweiter römischer Aufenthalt vom Juni 1787 bis April 1788, 17. Oktober 1787), dass „alle wirklich klugen Menschen“ darauf kommen und bestehen, dass der Moment alles ist. Der Philosoph Martin Heidegger stellt sich in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) die Frage: Wann bin ich ganz „bei mir“? Wann erfahre ich mich ganz als „Selbst“ und bin „wirklich“? Seine Antwort lautet ebenfalls: im Augenblick. Leider „geschieht“ bzw. passiert das Leben für viele Menschen einfach nur. Es fließt wie ein gleichförmiger Strom am Rande ihrer Existenz vorbei. Sie nehmen deshalb häufig eine unbeteiligte Position ein und scheinen wie Strandgut am Strom des Lebens.
Das Leben in einer bestimmten Zeitspanne hängt nicht allein von der Länge, sondern vor allem von der emotionalen Tiefe, Intensität und Wahrnehmungsdichte der erlebten Zeit ab. Dabei geht es um die Fragen: Sind wir berührt? Ist sie bedeutsam für uns? Der Schauspieler Fritz Wepper, der am 17. August 80 Jahre alt wurde, sieht sein Leben „als gigantisches Mosaik, das sich aus Millionen von Steinchen beziehungsweise Momenten zusammensetzt. Im Ganzen betrachtet verschmelzen sie zu einem ewigen Augenblick.“ Das erinnert an Goethe, der in seinen Gesprächen mit Johann P. Eckermann am 3. November 1823 bemerkte, dass jeder Zustand, jeder Augenblick „von unendlichem Wert“ ist, „denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit“. In seiner Autobiografie „Ein ewiger Augenblick“ erzählt Wepper, wie ihn Zen dazu gebracht hat, im Augenblick zu leben:
„Und das, was ist, zu trennen von dem, was sein könnte oder in der Vergangenheit gewesen ist. Jetzt ist jetzt, hier ist hier.“
Die Meditation, zu der er 1978 bei einem Abendessen von Hubert Burda kam, bei dem über Zen-Buddhismus gesprochen wurde, ist für ihn ein „wirksamer Lawinen-Stopper“: Diese Entspannungstechnik ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen und half ihm, Sorgen loszulassen. Der Biografie vorangestellt ist das Rilke-Gedicht „Du musst das Leben nicht verstehen“. Fritz Wepper beschreibt, dass es auf etwas anderes ankommt. Wer sich seines nahenden Todes bewusst ist, hat das Privileg einer doppelten Perspektive: Er ist ein fühlender Teil dieser Welt, hat aber gleichzeitig auch genügend Abstand, um das Leben in seiner Ganzheit zu erfassen.
Fritz Wepper ist in diesem Buch innen und außen zugleich. Er bat Menschen, die ihm nahestehen, von ihm zu erzählen. Dabei geht es nicht die „süßen Lebens-Rosinen“, sondern auch „um Tod und Verlust, um Versagen und Verzeihen“. Wepper selbst berichtet von seiner Liebe zur Schauspielerei, der Kindheit im zerbombten München, seinen Hobbys, seiner Ehe und seinen Affären. Dazu gehört auch, dass er seine Frau Angela, die 2019 gestorben ist, zunächst verlassen hatte und dann zu ihr zurückkehrte. Thematisiert wird auch seine Krebserkrankung, aber auch das, was sein Leben im Innersten zusammenhält: Traditionen und Rituale sowie die Liebe zu Menschen und seinem Beruf.
Bereits mit elf Jahren gehörte er zur Münchner Theater‐ und Filmszene. Als 18-Jähriger war er in Bernhard Wickis preisgekröntem Antikriegsfilm „Die Brücke“ (1959) zu sehen und wurde berühmt durch seine Rollen als Harry Klein in der Krimiserie „Der Kommissar“ (1969–1976) und Derrick (1974–1998). Im Oscarprämierten Musicalfilm „Cabaret“ (1972) spielte er in einer Nebenrolle einen Gigolo. Mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Elmar spielte er von 1994 bis 2001 in der ZDF-Reihe „Zwei Brüder auf Verbrecherjagd“ und mit seiner Tochter Sophie in der ARD-Serie „Mord in bester Gesellschaft“ (2007–2017). Einem breiten Publikum ist er auch als Bürgermeister in TV-Serie „Um Himmels Willen“ bekannt. Mit der Kamerafrau und Regisseurin Susanne Kellermann, die er 2019 heiratete, hat er eine Tochter. Unter dem Titel „Mein Fritz“ drehte sie eine beeindruckende Dokumentation über ihn, die kürzlich im BR zu sehen war. Buch und Film bilden eine Einheit: Als das Buch geschrieben wurde, lebte Weppers bester Freund, sein Hund Aron (der an Krebs starb), noch. Der Film setzt ihm ein Denkmal. Solange es Herr und Hund möglich war, taten sie das, was ihnen am meisten Freude machte:
„Wir sammeln Augenblicke und genießen sie. Wir hoffen. Aber wir warten nicht mehr.“
Fritz Wepper hat keine Angst vor dem Tod – er weiß, dass er am Ende auch seinen Körper loslassen muss. Wie er begraben werden will, sagt er im Film seiner Frau: „Beerdigt werden möchte ich in meinem schwarzen Kimono, den ich zum Meditieren trage. Am Handgelenk möchte ich ein buddhistisches Armband mit hölzernen Perlen tragen. Beides Symbole des Loslassens.“
Weiterführende Informationen:
- Fritz Wepper (mit Anna Butterbrod): Ein unendlicher Augenblick. Die Autobiographie. Wilhelm Heyne Verlag, München 2021.
- Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind. Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg 2015.
- Hermann Scherer: Fokus! Provokative Ideen für Menschen, die was erreichen wollen. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2016.
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