Weltbildend: Unterwegs zu sich selbst
Vom Aufbrechen und Ankommen
„Die Kunst besteht darin, das Buch des Lebens so zu verfassen, im Seelenparlament eine solche Politik zu verfolgen, dass es gut ausgeht mit uns.“ Das verstand auch der Kulturdiplomat und Schriftsteller Stephan Wackwitz, der 1952 in Stuttgart geboren wurde, an seinem vorletzten Dienstort Georgien. Über zwei Jahrzehnte war er für das Goethe-Institut weltweit unterwegs – in Tokio und Krakau, in Bratislava, in New York, in London, Tokio, Tiflis und Minsk. Parallel hat er immer geschrieben: kulturhistorische Bücher, biografische Romane, vor allem aber literarische Essays. Diese Form macht auch das Leben des mit einem Möglichkeitssinn ausgestatteten Menschen aus: Es erfordert eine „paradoxe Mischung aus Genauigkeit und Unbestimmtheit“ - ein Beginn auf etwas hin, ohne genau zu wissen, worauf es am Ende hinausläuft, schreibt Robert Musil in seinem Fragment gebliebenen Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“, dessen Hauptfigur, ein junger Mathematiker und Wissenschaftler, beschließt, „essayistisch“ zu leben. Auch Wackwitz, ein teilnehmender Beobachter, lässt sich zugleich von seinem inneren Willen und von der Welt führen, auch er sucht sich anders zu verstehen - "mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt“.
Als Programmchef des Goethe-Instituts arbeitete er auch in New York. Sein Büro lag direkt an der Fifth Avenue. In seinem gleichnamigen Buch ist er als „essayistischer Stadtwanderer des frühen 21. Jahrhunderts“ zwischen Harlem und Greenwich Village unterwegs – bewandert (zu Fuß) und erfahren (mit dem Rad). Nach New York kam er schon als Kleinkind für ein Jahr - mit seiner Mutter Margot Wackwitz, geboren 1920, die hier in der Fashion-World Fuß fassen wollte. Der Wunsch erfüllte sich allerdings nicht. Kurze Zeit später kehrte sie als „rechte Hand“ des Vaters in die westfälische Provinz zurück, wo er als Leiter des dortigen Goethe-Instituts seine Karriere begann, die Stephan Wackwitz ebenfalls einschlug. Die Fähigkeiten der Mutter verkümmerten – nachzulesen auch in seinem Prosa-Essay „Die Bilder meiner Mutter“: Ihr Wunsch nach einem selbstbestimmten Dasein wurde nicht erfüllt. Der Lebensentwurfe zerbrach in der Ehe mit Wackwitz' Vater und in der Enge der fünfziger und sechziger Jahre. Nur einmal stand ihr eine Tür offen - als sie 1936 an der Berliner Kunstakademie „Lette-Verein“ eine Ausbildung in Mode-Grafik absolvierte. Später wurde bei ihr unheilbarer Brustkrebs diagnostiziert.
Wendungen und Wandlungen
Mit New York verbindet sich auch das eigene selbstbestimmte Leben von Stephan Wackwitz: 1979 verbrachte er hier als verliebter und bald geläuterter Marxist-Leninist einen Sommer. 2007 brauchte er lange Zeit, um einen vernünftigen Wohnsitz in seiner „zeitweiligen Heimatstadt“ zu finden. In seinem Buch werden innere und äußere Routen nachgezeichnet: Stadtarchitektur und die sie umgebende Landschaft sind dabei genauso wichtig wie sein bewegtes Innenleben. Aufbau und Verfall erscheinen immer als ganzheitliches Bild. Über Tiflis ( Tiblissi ist der georgische Name) schreibt er: „Was im Moment die Stadt prägt, ist das Entstehen von ganz vielen modernen und sehr scheußlichen Gebäuden, die ohne Rücksicht auf die Kontexte einfach so in die Stadt hineingeknallt werden – und da hat man also wirklich das Gefühl hat, hier verschwindet etwas sehr schnell und man es jetzt noch einmal sehen, bevor es dann ganz weg ist.“ Fünf Jahre lebte er in Georgien, zudem bereiste er seine Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan bereist. Als er in Tokio war, setzten ihn schon seine ersten Spaziergänge „unter einen Beschleunigungsschock“: Das ineinander Verschachteltsein von mittelalterlich engen Gassen und hypermodernen Stahl-Glas-Betonarchitekturen, das strapaziöse Tempo und die in westlichen Städten unerhörte Lautstärke dieser Stadtlandschaft, der in Deutschland nie gesehene Überfluss und Luxus der Waren, Schaufenster, weiblichen Garderoben, Restaurantinterieurs, Prunkarchitekturen schüchterte uns ein und erzeugte in uns, als Kompensation, intensives gesellschaftskritisches Räsonieren im Geist der Postmoderne."
In seinen Publikationen vermischen sich reale Städtebilder mit inneren „Unendlichkeitslandschaften“, Mega-Cities mit „inneren Bezirken“, Kultur- und Lesewanderungen.
Das Reisen schärfte sein Bewusstsein als Weltbürger und Literat. 2018 ist Stephan Wackwitz, der 26 Jahre an verschiedenen Orten im Ausland gelebt hat, wieder nach Deutschland zurückgekehrt: "Das Geheimnis der Rückkehr liegt darin, dass niemand als derselbe oder dieselbe irgendwohin zurückkehrt. Aber auch darin, dass alle Ursprünge, kaum hat man eine Weile nicht hingesehen, sich unwiederbringlich entfernt haben von ihrer Ursprünglichkeit. Weggang und Rückkehr machen die Welt unberechenbar." Er lebt in Berlin. Für ihn ist die Stadt der "urbanistische Inbegriff" dessen, was er in der Welt erfahren hat. In seinem Erinnerungsbuch „Geheimnis der Rückkehr“ blickt er auch auf sein Leben zurück: Als pietistischer Klosterschüler in der schwäbischen Provinz und später als überzeugter Jung-Marxist verfiel er absoluten Glaubenssätzen. Er schreibt über Begegnungen mit namhaften Persönlichkeiten und prägende Erfahrungen und Impulse die verarbeitet werden. Die Lektüre des amerikanischen Philosophen Richard Rorty markierte für ihn einen Wendepunkt: Fortan sieht er sich als pragmatischer liberaler Ironiker. Dabei geht es auch ums pragmatische Anpacken im Hier und Jetzt, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben oder das Gefühl von Zeitverlust. Fjodor Dostojewski gehörte zu denen, die ihr ganzes Leben gegen diesen „lebendigen Feind“ kämpften. In seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ heißt es: „Ja, unbedingt, [das Leben] lieben vor aller Logik, unbedingt vor aller Logik, dann erst wird auch der Sinn begreiflich. Die Hälfte deiner Sache ist getan, Iwan, und gewonnen. Du lebst gerne. Jetzt musst du dich auch um die zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.“
Der „Essay“ als literarische Gattung ist bestens geeignet, sich Themen assoziativ und schweifend von vielen Seiten zu nähern.
Unfertiges und Gedankenreiches weist über Grenzen hinaus und will weitergedacht werden. „Essay“ stammt vom „Wägen“ (von der Kostprobe und dem Versuch). Daraus entwickelten Francis Bacon und Michel de Montaigne – der auch eine wichtige Rolle im Buch von Wackwitz spielt - eigene Produkte der Urteilskraft. Das eigene Schreiben lässt sich bei Stephan Wackwitz am besten mit dem Begriff Sprezzatura fassen: Dieser wurde vom italienischen Schriftsteller Baldassare Castiglione als Fähigkeit beschrieben, auch anstrengende Tätigkeiten oder solche, die langes Lernen und Üben voraussetzen, leicht und mühelos erscheinen zu lassen. Der Leichtigkeit „nachhaltigen Schreibens“ ist allerdings eine lebenslange Einübung in der Kunst des Denkens, Lesens und Schreibens vorausgegangen. So widmete sich auch Paul Valéry (1871-1945) jeden Morgen in einem strengen Ritual mehr als fünfzig Jahre lang seinen „Cahiers“ (Notizheften): Der Unsicherheit seiner Zeit wurde diszipliniert und in individueller Höchstleistung die Arbeit des Denkens entgegengesetzt. In diesen Kontext gehört auch das Buch „Geheimnis der Rückkehr“, das zugleich ein Ankommen bei sich selbst ist: Es lehrt die Kunst des Denkens, wie wir die Kräfte unseres Könnens entfalten und unseren Panoramablick im Komplexitätszeitalter schulen können.
Das Buch:
- Stephan Wackwitz: Geheimnis der Rückkehr. Sieben Weltreisen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024.
Weiterführende Informationen:
- Übung macht den Meister: Warum auch Bloggen zur Kunst des Denkens gehört
- Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. Ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2016.
- Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der Welt – unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
- Stephan Wackwitz: Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010.
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