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Weltflucht ist gut, Gestaltung der Verhältnisse besser

Die entzauberte Welt

Wo es heute an Vertiefungen wie Identität, Gemeinschaft, Solidarität fehlt, mangelt es auch an inneren Ressourcen und Reserven, die wir brauchen, weil sie uns immun gegenüber Verführungen machen und uns emotional nicht abstumpfen lassen. Die aktuellen Herausforderungen und die damit verbundenen Unsicherheiten werden dem Einzelnen und der Gesellschaft noch mehr „Stehfestigkeit“ abverlangen, die mit dem Glauben eng verbunden ist. So definiert ihn der Hebräerbrief als „Feststehen in dem, was man erhofft“ (Heb 11,1). Glauben heißt also: einen festen Stand haben, ohne sich täglich nach dem Wind zu drehen. Beim Propheten Jesaja sind Glaube und Stehen eine Einheit: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht, so habt ihr kein Stehvermögen.“ (Jes 7,9) Doch der Glaube ist heute vielen Menschen abhandengekommen – sie „glauben“ inzwischen, „dass sie ohne das telepathische Organ am Ohr nicht leben können.

Früher hat man gebetet, heute hat man eben das Handy“, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk.

Wo früher Gemeinde war, ist heute Publikum. Die Religion hörte auf, „ein vitales Element im Leben der meisten Menschen zu sein“, bemerkt auch der indische Intellektuelle Pankaj Mishra. Die neue Religion heißt für ihn „Fortschritt“. Wo einst Himmel war, ist heute Big Data ein ewiger Speicher. Trotz dieser Entwicklung ist das religiöse Sprechen („Poesie der Resilienz“) aktueller denn je. Es hat einen feinen Grund, denn es bietet Tiefe und Poesie, der Sloterdijk in seinem neuen Werk „Den Himmel zum Sprechen bringen“ nachspürt: „Aus dem Gesamt von Tag- und Nachthimmel ergab sich seit je ein archaisches Konzept des Umfassenden. In ihm ließ sich das Ungeheure, Offene, Weite mit dem Beschützenden, Häuslichen in einem Symbol kosmischer und moralischer Integrität zusammendenken.“

Sloterdijk widmet sich allem, wodurch Religion sich selbst Anziehungskraft verschafft (Beispiele aus dem alten Ägypten, Spätantike, Islam, Protestantismus) und analysiert eine Eigenschaft bestimmter Sprachspiele, die er „theopoetisch“ nennt. Theopoesie handelt von den in der Bibliothek der Menschheit gespeicherten Versuchen, Gott oder die Götter zum Sprechen zu bringen (entweder sprechen sie selbst oder ihre Stimmen werden von den Dichtern wiedergegeben). Stellvertretend verweist er auf Hölderlins Hymne „Andenken“ (verfasst 1803, Erstdruck 1808), deren Schlusszeile lautet: „was bleibet aber, stiften die Dichter“.

Wo ein Mensch der Göttersphäre zu nahe kam, wurde von Hybris gesprochen, die durch Abstürze kuriert wurde. „Wer sich im Mittleren hielt – schlichter gesagt: wer im Alltäglichen verankert bliebt -, widerstand der gottlosen Versuchung zu fliegen.“ Dem Grad der Verblendung nach war Sloterdijk zufolge Ikarus der nächste Verwandte von Ödipus. Besonders interessant wird das Buch immer an jenen Stellen, wo Details an Schärfe gewinnen – zum Beispiel, wenn er auf Robert Oppenheimer verweist. Er dachte nach der Zündung der ersten mit Plutonium gefüllten Atombombe in Los Alamos am frühen Morgen des 16. Juli 1945 an Verse aus der Bhagavadgita: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“

Weiterführende Informationen:

Alexandra Hildebrandt: Glaube, Resilienz und Nachhaltigkeit: Stehvermögen durch innere Ressourcen

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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