Wir sind aufgerufen zur „Sinnentnahme“: Viktor E. Frankl über höchste Lebenskunst
Wir sind aufgerufen zur „Sinnentnahme“. Das verband der Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl (1905 – 1997) mit höchster Lebenskunst. Durch den Dienst an einem Werk, die Erfüllung einer Aufgabe, das Engagement für eine Idee werden Menschen befähigt, auch in schwierigsten Situationen einen eigenen Sinn zu finden. Schon an der Größe eines Augenblicks „lässt sich die Größe eines Lebens messen“ – bereits ein einziger Augenblick kann rückwirkend dem ganzen Leben Sinn geben. Es geht vor allem um inneres Wachstum, darum, mit jedem Denken und Tun, ja sogar durch Untätigkeit und Stille die eigene Persönlichkeit zu formen und zu gestalten, um „wirkmächtig“ zu werden – auch über das eigene Leben hinaus. Im Sinne der Nachhaltigkeit geht es um das, was von uns bleibt, was uns überdauern kann, das über uns hinaus und über uns hinweg Nachwirkende. Eine nachhaltige Gesellschaft braucht Menschen, die selbst Verantwortung übernehmen, eine Vision haben und mithelfen, an einer besseren Welt zu bauen. Sie denken voraus im Bewusstsein, dass es immer noch etwas Größeres gibt als die eigene Person.
Der Gründervater der Logotherapie und Existenzanalyse ermutigte in seinen Werken dazu, sich nicht den Zweifeln und Zukunftsängsten zu überlassen, sondern sich souverän gegen den Sog von Resignation, Angst und Apathie zu stemmen und sinnorientiert zu handeln, wo immer dies möglich ist. Er war davon überzeugt, dass die Welt nicht heil, aber heilbar sei. Die Existenzanalyse befasst sich mit dem Ringen des Menschen um einen Sinn und die persönlichen Aufgaben des Lebens. Dabei geht es nicht ums Dulden von schwierigen Situationen, sondern um die aktive Umgestaltung. In seiner therapeutischen Arbeit verwendete er gern Gleichnisse aus dem Alltag, um die Bedeutung der Selbsttranszendenz für die Fähigkeit, Lebenssinn zu finden, aufzuzeigen.
Dr. Elisabeth Lukas, seine bekannteste Schülerin, hat für das Buch „Zeiten der Besinnung“ die die eindrücklichsten Gleichnisse zusammengetragen und kommentiert. Wie auch die anderen Bücher dieser Herausgeberreihe, wird auch hier gezeigt, wie das eigene Ende zu einer Voll-endung werden kann. Dafür ist es allerdings wichtig, sich die Limitierung der eigenen Zeit vor Augen führen, die mit Bedacht und Freude sorgsam und engagiert genutzt werden sollte. Wäre das Leben endlos, würde fast alles aufgeschoben werden - nichts wäre dringlich. Wir leben in unruhigen Zeiten. Viele Menschen sprechen auch davon, in einer BANI-Welt zu leben. BANI steht für brittle (brüchig), anxious (ängstlich, besorgt), non-linear (nicht-linear) und incomprehensible (unbegreiflich). Krisen, Kriege, Umweltkatastrophen, persönliche und kollektive Erschöpfung zeigen, wie verwundbar diese Welt und das Leben des Einzelnen ist.
Wer nur für seine Arbeit lebt, nur für einen Menschen, nur für ein „Etwas“, setzt alles auf eine Karte – damit steht und fällt alles. Davor warnte Viktor Frankl. Viele Menschen entscheiden heute zwischen „Aufgabe“ und Aufgabe, sich selbst „aufzugeben“ oder sich einer Aufgabe hinzugeben – wer in die Enge geraten ist, findet keine sinnvolle Aufgabe und gibt sich selbst auf. Statt an sich selbst zu arbeiten, widmen sich viele nur der Arbeit an ihrem Selbstbild, was angesichts von Digitalisierung und Kommerzialisierung des Internets selbstverständlich geworden ist. Influencer repräsentiert einen „konsumaffinen Kosmopolizismus“ (Ole Nymoe und Wolfgang M. Schmitt). Sie beherrschen nicht nur das Storytelling, sondern bieten auch ein Aufstiegsversprechen. Die „Schöpfungshöhe des Werks“ ist allerdings gering – oder nicht einmal vorhanden. Von Frankl lässt sich lernen, dass der Mensch nicht dazu da ist, „um sich selbst zu beobachten und sich selbst zu bespiegeln; sondern er ist da, um sich auszuliefern, sich preiszugeben, erkennend und liebend sich hinzugeben.“ Doch wenn er nur noch sich selbst sieht, ist er seelisch krank und bringt kein Vertrauen auf - zu anderen und zu sich selbst. „Solange die ‚Erziehung zum Gewissen‘ nicht intensiv angekurbelt wird, sei es pädagogisch im Kleinen, sei es politisch im Großen, werden wir allesamt unter den ‚Pathologien des Zeitgeistes‘ zu leiden haben“, schreibt Elisabeth Lukas in einem Kommentar.
In einer Gesellschaft wie der unsrigen versteht sich Fairness allerdings nicht mehr von selbst. Das Konkurrenzprinzip hat schärfere Züge erhalten, die Bereitschaft zur Gewalt hat zugenommen und die Ehrfurcht vor dem Leben nachgelassen. Deshalb muss Fairness wieder neu zum Bewusstsein gebracht werden. Dazu trägt auch dieses Buch bei - und ein Blick auf das Leben von Viktor Frankl, der Ideen anderer niemals als eigene ausgab, sondern die Quellen immer korrekt angab. „Das ist heute kaum mehr üblich“, betont Elisabeth Lukas. Zitate und „Erlesenes“, das gerade gefällt, schreiben sich Menschen selbst zu oder verändern es einfach. Quellenrecherche ist für sie Zeitverschwendung. Ein aufgeblasenes Ego lässt Bescheidenheit gar nicht erst aufkommen. Frankl dagegen hob sich selbst nie auf ein Podest: „Die wahrhaft Großen sind allesamt – bescheiden.“ (Elisabeth Lukas)
In solchen Zeiten ist es wichtig, das Bewusstsein des Menschen für seine Freiheit und Verantwortung für etwas und vor jemandem zu schärfen. Auch wenn sich bestimmte Situationen nicht ändern lassen, so können wir unsere innere Einstellung dazu ändern. Frankl selbst erfuhr unfassbares Leid, überlebte mehrere Konzentrationslager und verlor seine Familie: Trotz dieser Schicksalsschläge war er Zeit seines Lebens ein Menschenfreund, der es verstand, jede Krise zu meistern, anstatt an ihnen zu verzweifeln: „Der Mensch ist kein von Triebhaftem getriebener, sondern er wird von Werthaftem gezogen.“ In diesem Zusammenhang wird auf die Psychoanalyse von Sigmund Freud verwiesen: Der Psychoanalytiker hat sie Sicht eines Kanalräumers, der nur Rohre für Gas und Wasser und Kabel für elektrischen Strom unter der Stadt sieht. Sein Blick ist nur auf den (seelischen) Unterbau gerichtet.
„Aber das geistige Leben besteht nicht aus Lust und Trieb. Beide sind nicht das Eigentliche – nicht das, worauf es eigentlich ankommt“, so Frankl. Das lässt sich auch auf den Nachhaltigkeitskontext übertragen: Wo es nur um Theorien, Begriffe und Regularien geht, kann uns das Thema im Innersten nicht erreichen – und wir kommen nicht dazu, richtige Entscheidungen zu treffen. Sie sind die Voraussetzungen für die Verwirklichung aller Werte (die nicht gelehrt, sondern nur gelebt werden können) und jeder Leistung, in die das Leiden „verwandelt“ werden sollte. „Wie viel ist aufzuleiden!“, heißt es bei Rainer Maria Rilke (1875-1926). Er lebte ständig wie jemand, der aus den Räumen der Welt hinausgeworfen wurde, hatte nie eine feste Adresse, keinen "anständigen" Beruf, nie ein festes Einkommen, war oft in finanzieller Not und wurde von einigen Gönnerinnen und Gönnern ausgehalten. Das Bauen an sich selbst ist ein wichtiges Fundament seiner Wort- und Lebenskunst.
Die Freiheit des Willens, dass wir die eigene Haltung zu äußeren Bedingungen des Lebens immer frei wählen können, wurde zum zentralen Postulat seiner Logotherapie und Existenzanalyse. Das ermöglicht uns, den mentalen Reflex in uns zu aktivieren, den er „Trotzmacht des Geistes“ nannte. Sein Vermächtnis an uns: „Seid achtsam auf den Brettern, die die Welt bedeuten! Ihr spielt vor offenem Vorhang!“ Die Beschäftigung mit ihm trägt auch nachhaltig dazu bei, den transzendenten Charakter der „Gewissenstimme“ (innere Stimme) herauszuhören, damit Mitgefühl, Liebe, Großzügigkeit und Toleranz wirken können. Dies muss auch im Wirtschaftskontext wieder neu zum Bewusstsein gebracht werden. „Mit dem Verstand allein kommen wir nicht zur Vernunft“, sagt der Unternehmer Werner Neumüller. „Wenn Menschlichkeit und Empathie im Privaten so essenziell sind, sollten wir nicht auch mehr davon in den Berufsalltag Einzug halten lassen?“ Menschliche Gefühle werden auch an den Arbeitsplatz mitgebracht.
Er plädiert für eine nachhaltige Nutzung von Kopf und Herz – ähnlich auch Frankl: „Selektieren wir mit kritischem Verstand und gütigem Herzen, was in uns eindringen darf und was nicht; wenn wir unsere Ohren aufmachen und wann wir sie besser verschließen; was wir unserem Nächsten in die Ohren flüstern und was wir – still entsorgen.“ Wo Brücken von Mensch zu Mensch geschlagen werden sollen, müssen die Brückenköpfe „nicht nur die Köpfe, sondern die Herzen sein.“ Wo sie fehlen, breitet sich das Leid aus.
Viktor E. Frankl: Zeiten der Besinnung. Gleichnisse. Zusammengestellt, ergänzt und kommentiert von Elisabeth Lukas. Mit einem Vorwort von Walter Kohl. Benevento Verlag. München, Salzburg 2023.
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Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.