„Wo sich Pariser Flair mit dem Charme der Provinz mischte …“: Eine Kulturwanderung mit Marion Voigt
Marion Voigt ist freie Lektorin und Autorin. Die gelernte Buchhändlerin studierte in der Zeit von Perestroika und Mauerfall Slawistik, Osteuropäische und Mittlere Geschichte; sie gründete 1996 ihr Lektoratsbüro. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden historische Stoffe. Das Interview widmet sich dem Thema ihres aktuellen Buches „Verheißung und Dekadenz. Baden-Baden und die russische Literatur im 19. Jahrhundert“ – und was diese Traditionslinien für unsere Gegenwart bedeuten.
Frau Voigt, wie wurde Baden-Baden zu einem Ort von europäischer Geltung?
Da kamen ein paar interessante Faktoren zusammen. Die markgräfliche Familie betrieb um 1800 erfolgreich Heiratspolitik und war verwandt mit Herrscherhäusern von Frankreich bis Russland, Bayern bis Schweden. Im nahe gelegenen Rastatt fand zu Napoleons Zeiten ein Friedenskongress statt, auf dem sich Hunderte preußische, österreichische und französische Diplomaten trafen. Außerdem lag das spätere Großherzogtum Baden verkehrsgünstig an einigen europäischen Hauptverkehrsadern. Und mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes gelangte man bald aus allen Richtungen bequem in das Schwarzwaldbad mit seinen heißen Quellen und dem Spielcasino.
Was macht den kosmopolitischen Geist einer Stadt wie Baden-Baden aus?
Im 19. Jahrhundert war es so: Die Menschen kamen von überallher, auch aus Übersee. Besuchte man die französische Hauptstadt, konnte man einen Abstecher nach Baden-Baden machen, wo sich Pariser Flair mit dem Charme der Provinz mischte. Es entstand eine einzigartige Melange aus Naturerleben und Kulturgenuss, modernem Gesundheitsbewusstsein und Amüsement, verfeinerter Lebensart und internationaler Atmosphäre. Mit den Gästen trafen auch Nachrichten aus der ganzen Welt ein, es gab Zeitungen, neueste Depeschen, die aktuelle Literatur; die Stadt war ein Informationshotspot. Man verabredete sich, um sich auszutauschen, Intellektuelle genauso wie Diplomaten und Militärs. Der spätere Kaiser Wilhelm I. und seine Frau verbrachten jahrzehntelang ihren Sommerurlaub in Baden-Baden.
Was macht die Stadt zu einem Ort voller Spannungen?
Es gibt die Rede vom Flüsschen Oos als Stammesscheide und Sprachgrenze zwischen Rheinfranken und Alemannen, die sich immer noch unterschwellig bemerkbar mache. Auf der einen Seite der Oos liegen die Altstadt und das ehemalige Bäderviertel, auf der anderen breitet sich das mondäne Kurviertel aus. Die High Society traf auf die ländliche Bevölkerung. Die Gäste brachten ihre Konflikte und ihre Träume mit. So gesehen passt der Doppelname Baden-Baden gut zu der Stadt, die Gegensätze vereint, wie es heißt, und von den Zeitgenossen als Klein-Paris und Gegen-Paris bezeichnet wurde (Balzac).
Warum zog es gerade Gäste aus Russland dorthin? Und inwiefern kann Ihr Buch dazu beitragen, dass sich manche Diskussionen etwas entspannen?
Im Russischen Reich hatte Baden schon früh einen besonderen Ruf. Aus dem kleinen deutschen Fürstentum stammte die Ehefrau Alexanders I., der 1801 den Zarenthron bestieg. Dort gab es dieses paradiesisch gelegene Kurbad, in dem sich Offiziere nach dem Kampf gegen Napoleons Heer und der Eroberung von Paris beim Glücksspiel erholt hatten. Der Nimbus des Orts wuchs, je mehr hohe Diplomaten und reiche Gutsbesitzer samt Anhang sich die weite Reise von Moskau oder St. Petersburg in den Westen leisteten und im Oostal Station machten.
Auch die für die Zeitgenossen fortschrittlichen liberalen Strömungen und ein bürgerlich aufgeklärtes Klima übten ihren Reiz aus. Man traf sich, beobachtete, diskutierte politische Ereignisse und Ideen, fühlte sich abgeschreckt von der herrschenden Dekadenz oder angezogen von der freiheitlichen Atmosphäre.
Für mich war es überraschend, wie stark der heute wieder aufgeflammte Ost-West-Konflikt in dieser Epoche wurzelt, etwa im Streit zwischen Slawophilen und Westlern, der auch in Baden-Baden ausgetragen wurde. All das trägt nicht unbedingt zur Entspannung aktueller Diskussionen bei, aber es zeigt Traditionslinien auf, im Negativen wie im Positiven. Und was sich Turgenjew und Dostojewski an einem Sommertag des Jahres 1867 gegenseitig an den Kopf werfen, lässt tief blicken.
Welche russischen Autoren sind am engsten mit Baden-Baden verbunden?
Iwan Turgenjew steht sicherlich an erster Stelle. Einerseits durch seinen Roman Rauch, der in Baden-Baden spielt, andererseits dadurch, dass er sieben Jahre hier gelebt hat. Auch Dostojewski, der mehrfach zu Besuch war, hat die Stadt in einem Roman verewigt, sein „Spieler“ hat als Schauplatz den fiktiven Ort Roulettenburg, eine Mischung aus Baden-Baden und Wiesbaden.
Nach welchen Kriterien wurden Autoren und Werke ausgewählt?
Durch die Verknüpfung zwischen Baden-Baden und russischer Literatur ergab sich die Auswahl der Autoren fast von selbst. Wie lange waren sie dort, wie oft? Hat ihr Aufenthalt sich in ihrem Werk niedergeschlagen? Ganz schnell stand fest, dass Turgenjew, Dostojewski und Gontscharow jeweils ein Kapitel erhalten würden. Zwei heute bei uns vergessene, aber für die russische Literatur enorm wichtige Autoren kamen dazu. Bei einem berühmten Namen stockte ich: Gogol. Er war Ukrainer in einer Zeit, in der die Ukraine zum Russländischen Imperium gehörte. Aber er hat auf Russisch geschrieben und zählt unzweifelhaft zum Klassikerkanon. Deswegen ist auch ihm ein Kapitel gewidmet, für mich eines der spannendsten. Frauen begegneten mir während der gesamten Recherche leider nur als Nebenfiguren. Doch dann tauchte ein Name immer wieder auf: Alexandra Smirnowa, ebenfalls in der Ukraine geboren. Und um sie, eine verhinderte Autorin, geht es im letzten Kapitel.
Gibt es Autoren, die Ihnen besonders nah sind – und warum?
Richtig ans Herz gewachsen ist mir Iwan Turgenjew. Früher brannte ich eher für Dostojewski. Das hat sich durch die Arbeit an dem Buch beinahe umgedreht. Turgenjew war ein großer Europäer, ein Brückenbauer. Er förderte Kollegen, regte Übersetzungen ihrer Werke an und machte die russischsprachige Literatur im Ausland bekannt. Umgekehrt sorgte er auch für Übersetzungen ins Russische. Turgenjew reiste viel, er lebte viele Jahre in Deutschland und Frankreich. Ein Kosmopolit. Sein Roman „Rauch“ ist ein mutiges Plädoyer für die europäische Zivilisation.
Was haben uns diese Werke heute noch zu sagen? Welche aktuellen Bezüge gibt es?
Nehmen wir Dostojewskis ‚Dämonen“, auf die ich im Buch näher eingehe. Der Roman erzählt von einem Programm des Terrors im Dienst der Revolution, und das auf ebenso beklemmende wie kunstvolle Weise. Oder Gogols Frühwerk „Taras Bulba“. Es spielt im Gebiet von Saporischschja, dort, wo im Sommer 2022 heftige Kämpfe um das Atomkraftwerk stattfanden. Im Text von 1835 heißt: »Von hier aus ergießen sich die Freiheit und das Kosakentum über die ganze Ukraine« … Am Beispiel von Gogol wird deutlich, wie verschlungen die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine waren und sind.
Wer soll mit dem Werk erreicht werden?
Wer einen unterhaltsamen Einstieg in die russische Literatur sucht, den nehme ich gern mit auf meine Entdeckungsreise: Klassiker (neu) lesen, sie in Zusammenhang mit ihrem historischen Hintergrund stellen und ausloten, wie Geschichten und Geschichte verquickt sind. In Baden-Baden trafen über eine lange Zeit hinweg ganz unterschiedliche europäische Strömungen zusammen. Sie ergaben eine schillernde Mischung aus Kultur, Kunst, Politik und Alltag von großer Anziehungskraft, gerade auch für die Gäste aus dem Russischen Imperium. Sieben von ihnen stelle ich ganz persönlich vor.
Haben Sie Autoren und Werke für sich (neu) entdeckt?
Manche Romane, etwa Iwan Gontscharows „Oblomow“, habe ich beim Wiederlesen mit ganz anderen Augen gesehen. Eine Neuentdeckung war für mich Alexandra Smirnowa. Sie kannte die namhaften Künstler ihrer Zeit und wurde von ihnen bewundert. Im hohen Alter begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und fand dafür eine eigene fiktionale Form. Zwar blieb ihr Memoirenzyklus fragmentarisch, aber als »literarisches Denkmal« ist er von besonderem Wert.
Wie sah der Alltag in diesem mondänen Kurort aus?
Anhand von persönlichen Dokumenten wie Briefen und Tagebüchern lässt sich sehr gut nachvollziehen, welche Wege meine Protagonisten durch den Kurort nahmen. Anna Dostojewskaja etwa beschreibt genau, wie sie Einkäufe macht oder mit ihrem Mann zum Alten Schloss spaziert. Eine Fundgrube ist auch das „Badwochenblatt“, das ein- bis zweimal wöchentlich während der Saison erschien. Neben Veranstaltungshinweisen und Geschäftsanzeigen enthielt es »Merkwürdigkeiten« verschiedenster Art, erbauliche Texte, Genesungsgeschichten, Rätsel und Trinklieder. Am wichtigsten aber war ein genaues Verzeichnis der ankommenden Fremden. Beim Durchsehen dieses Blattes entsteht ein lebendiges Bild vom damaligen Baden-Baden.
Welche Häuser erinnern heute noch an die Autoren von damals?
Da ist zum Beispiel die Turgenjew-Villa an der Fremersbergstraße, heute in Privatbesitz und nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Oder das »Dostojewskij-Haus« an der Ecke Gernsbacher/Bäderstraße, wo an der Fassade eine Büste des Schriftstellers über einem aufgeschlagenen Buch zu sehen ist. Dieses Gebäude wurde erst viel später errichtet, aber die Schmiede, über der die Dostojewskis wohnten, stand links davon. Nicht zuletzt erinnert das 1824 erbaute Kurhaus an alle diejenigen, die hier ihr Glück suchten.
Nach dem Ende der Sowjetunion schien sich die Geschichte zu wiederholen: Es kamen Tausende Russen in die Kurstadt, einige ließen sich nieder. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Angeblich ist Baden-Baden nach Berlin die bekannteste Stadt in Russland. Es gibt Thermen, die mit ihrem Namen werben, zum Beispiel in Jekaterinburg. Also kein Wunder, dass der Schwarzwaldort in den 1990er-Jahren wieder zur beliebten Destination wurde. Wer konnte, kaufte sich eine Immobilie oder machte Urlaub und genoss das Leben in der »russischsten Stadt Deutschlands«. Aber es waren schon immer nicht nur Russinnen und Russen, die dorthin kamen, sondern Menschen aus verschiedenen Regionen der Russischen Föderation, aus der Ukraine, dem Kaukasus oder aus Kasachstan. Allerdings ist die Anzahl der russischsprachigen Gäste schon seit der Annexion der Krim 2014 stark zurückgegangen. Nach dem Überfall auf die Ukraine 2022 kamen dann sehr viele Geflüchtete, gemessen an der Einwohnerzahl bis heute mehr als in jede andere deutsche Stadt.
Weshalb erschien Ihr Buch gerade jetzt?
Der Verlag wollte dieses Buch seit Längerem machen, ich habe den Vertrag Weihnachten 2021 unterschrieben. Dann begann der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, und wir haben uns natürlich gefragt, ob das Thema unter den veränderten Umständen noch relevant ist. Die Entscheidung fiel allerdings klar für das Buch aus, auch gerade jetzt. Man könnte meinen, dass das 19. Jahrhundert viel zu weit weg sei, um Antworten auf aktuelle Fragen zu bieten. Aber genau das Gegenteil ist der Fall.
Am Ende des Buches schreiben Sie: „Jetzt, wo die Skizzen vor mir liegen, sehe ich vor allem die Linien, die von ihnen wegführen, die Zusammenhänge, die sich erschließen, wenn ich zurücktrete.“ Können Sie einige nennen, die auch für unsere Gegenwart von Relevanz sind?
Bei meiner Recherche spielten zeitgenössische Quelle eine wichtige Rolle. Dabei stieß ich auch auf Reiseberichte, zum Beispiel von Astolphe de Custine, der 1839 das Russische Reich besucht hat. Sein Buch darüber war unglaublich erfolgreich und hat das (negative) Bild im Westen von den Verhältnissen im Zarenreich stark beeinflusst. Umgekehrt haben Reisende aus Russland über ihre Erfahrungen im Westen berichtet und dazu beigetragen, dass sich Stereotype und Vorurteile verfestigt haben. Ich glaube, es ist uns viel zu wenig bewusst, wie mächtig solche althergebrachten Deutungsmuster sind. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Buch:
- Marion Voigt: Verheißung und Dekadenz. Baden-Baden und die russische Literatur im 19. Jahrhundert. 8 grad verlag, Freiburg 2024.
Weiterführende Informationen:
- Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur, München 2020.
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