Woran unser Gesundheitswesen krankt – und wie es besser gemacht werden kann
Veränderung „von unten her“: Den schlafende Riesen wecken
Das deutsche Gesundheitssystem ist angesichts seiner Größe und Komplexität ein „weißer Riese“, der schläft. „Es ist höchste Zeit, ihn zu wecken!“, sagt Francesco De Meo. Der deutsch-italienische Manager war von 2008 bis 2023 CEO der Helios-Kliniken und Vorstand des im DAX notierten Gesundheitskonzerns Fresenius. Heute begleitet er weltweit Transformationen und berät Startups im Gesundheitswesen. Als Führungsverantwortlicher der Nummer 1 der Klinikkonzerne in Europa war es von Anfang an sein Ziel, „Prozesse zu verändern und zu standardisieren, um die Qualität zu steigern und gleichzeitig sinnlose Kosten zu vermeiden. Wir haben marode Kliniken übernommen, alte Gebäude abgerissen, Strukturen umgekrempelt, Arbeitsabläufe geändert – nicht immer zur Freude von Chefärzten, Beschäftigten, Gewerkschaften, aber für einen guten und sinnvollen Zweck, der an der Basis umgesetzt wurde“, schreibt er in seinem Buch „Den schlafenden Riesen wecken“. Die Leistungsverbesserungen in den von ihm verantworteten Kliniken waren das Ergebnis einer jeweils vor Ort konkret adaptierten agilen Strategie nach dem Leitspruch: „Es gibt immer etwas zu tun! Und Veränderungen müssen an der Basis beginnen.“ Nachhaltige Veränderungen gelingen nicht am „Reißbrett“, sondern nur „von unten her“. Damit ist auch die Verbindung zu SDG 11 (Nachhaltige Stadtentwicklung: Förderung von sicheren, inklusiven und nachhaltigen Städten und Siedlungen) angesprochen. Ein Blick zurück in die Geschichte bis Rio 1992 zeigt, dass die Lokale Agenda 21 damals eines der Kernstücke war. Alles begann vor Ort: auf kommunaler Ebene. Dass die lokalen Agenda 21-Prozesse noch immer lebendig sind, zeigt sich sn der Bedeutung und Nutzung der SDGs.
In diesen Kontext gehört auch der Weckruf von Francesco De Meo.
„Die Medikation wird unterschiedlich lauten, weil die Versorgung in Deutschland kein Einheitsmichel ist. Das Einfach Machen gilt vor allem für die Menschen, die vor Ort nah am Menschen deren Versorgung verantworten, politisch und fachlich.“ Dazu braucht es Intelligenz und Muskelkraft jedes Einzelnen: „Das Machen gilt schließlich für jeden von uns, weil wir selbst mehr Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen und uns von der Idee verabschieden müssen, die eigene Gesundheit ließe sich komplett an ein Gesundheitssystem delegieren. Auch wenn das nicht einfach ist.“ Mitmachen und Gestalten lautet für ihn die Devise des schlafenden Riesen, damit sich in Gesellschaft und Politik etwas ändert. Das Rezept: Menschen mit Gestaltungswillen machen lassen - regional vernetzt. Das folgende Beispiel zeigt, wie es gehen kann: Christine Bergmair; die auch Geschäftsführerin des Torgauer Landhandels ist, hat im schwäbischen Ort Steindorf (im Dreieck München ‒ Augsburg ‒ Ammersee gelegen), das Gesundhaus i-Tüpferl, ein modernes Praxishaus, aus eigener Initiative geschaffen. Damit soll die medizinische Versorgung auf dem Land verbessert werden. An den unterschiedlichen Positionen, die sie kennenlernte, fehlte ihr eine Dynamik im Gesundheitswesen, „die darauf ausgelegt ist, dass der Mensch im Mittelpunkt steht sowie zukunftsfähige und innovative Ideen agil weiterentwickelt und angepackt werden.“
Gesundheit und Nachhaltigkeit gehören für sie zusammen: Ihre Vision ist es, mit Ärzten, Therapeuten, Naturheilkundlern, Gesundheits- und Sozialberufen unter einem Dach interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Über fünf Jahre dauerte der gesamte Prozess „von der ersten Idee über Gemeinderatssitzungen, Gutachten, Bebauungspläne usw. bis zum fertigen Gebäude, das nun mit Leben gefüllt wird.“ Das Interesse unterschiedlicher Akteure am Gesundhaus i-Tüpferl schafft bereits eine breite Vernetzung im Gesundheitswesen, in Politik und Wirtschaft. Anerkennung findet das Projekt beispielsweise durch die LEADER-Förderung, die mit Unterstützung des Wittelsbacher Land e.V. erteilt wurde. Förderstipendien wie „Racing Team“ der Zeppelin Universität Friedrichshafen sowie „Mach‘-Jahr“ der KU Gestaltungsgesellschaft mbH München und Begleitung durch das Digital Urban Center for Aging and Health (DUCAH) bestätigen das große Entwicklungspotential. Eng zusammengearbeitet wird auch mit den Einrichtungen der KVB, der Gesundheitsregion Plus sowie dem Start-Up Hub Bayern am Bayerischen Staatsministerium. Auch durch die Politik erfährt das Gesundhaus i-Tüpferl viel Zuspruch und wird als „Leuchtturm-Projekt“ für die Region und den gesamten bayerischen Raum mit großem Entwicklungspotential gesehen. Ein „Geht nicht!“ wurde von ihr nicht akzeptiert.
Auch Francesco De Meo hat selbst angepackt – und erst dann darüber geschrieben. Michael Jacksons Song, „Start with the man in the mirror“ erklärt, warum er dieses Buch gemacht hat: „Weil ich endlich nach einem Vierteljahrhundert Insider im deutschen Gesundheitswesen die Zeit für einen tiefen Blick in den Spiegel genommen habe.“ Er hält ihn allen Akteuren vor, damit sie ungeschminkt sehen können, woran das deutsche System krankt. „Wer in diesen Spiegel blickt, und was er sieht, verändern will, der macht wie The Man in the Mirror den ersten Schritt für ein gesundes Gesundheitssystem. Und wenn viele diesen Schritt gehen, dann wird das den Riesen aufwecken.“ Er zeigt aber auch, dass das deutsche Gesundheitswesen besonders viel Potenzial zur Verbesserung bietet.
Herausforderungen und Probleme des Gesundheitswesens:
- Fehlendes digitales Mindset
- Massiver ökonomischer Druck
- Blockierende Einzelinteressen
- Knappe Finanzmittel
- Bewegung des Gesundheitssystems in selbst auferlegten Grenzen
- Komplexität der Systeme
- Kliniken stehen in scharfer Konkurrenz zueinander
- Existentielle Krisen (Bürokratie etc.)
- Prinzip „mehr Geld für weniger Qualität“
- Sektorentrennung zwischen ambulant und stationär
- Fehlende Stringenz in der deutschen Gesundheitspolitik
- Dysfunktionale Systemkonflikte (alte Strukturen und Mechanismen)
- Regulatorische „Trägheitslasten“ des Gesundheitssystems
- Überlastung der Beschäftigten in den Krankenhäusern.
Was passiert, wenn zu spät reagiert und an dem festgehalten wird, was immer getan wurde, zeigte sich vor einigen Jahren im Kontext des Gesundheitswesens am Beispiel Dräger, einst Vorzeigeunternehmen der deutschen Medizintechnikbranche: Noch zu stabilen Zeiten, 2009, wurde hier ein „Turnaround-Programm“ aufgelegt, um Profitabilität und Eigenkapital zu stärken. Doch es war nicht nachhaltig: So wurden trotz Sparmaßnahmen mit Segen des Vorstands rund 1000 neue Mitarbeitende auf Basis überzogener Wachstumsaussichten neu eingestellt, viele in der Zentrale sowie für Marketing und Vertrieb. Die Kosten liefen erneut aus dem Ruder. Projekte wie ‚Fit for Growth‘, ‚Evolution‘, ‚Shape‘ und ‚Recover‘ sollten wirksam Kosten und Personal einsparen. Interne Kritiker zweifelten und forderten stattdessen bessere Zusammenarbeit der Bereiche Medizin- und Sicherheitstechnik. Seine Forschungseinheiten betitelt Dräger damals „C&D, „Connect & Develop“ (verbinde und entwickle). Angestellte übersetzten dies als „Chaos und Desaster“. Auch hörte die Konzernführung nicht auf ihre rationalen Praktiker, sondern auf „Technikfantasten“. Schwellenländer, aber auch entwickelte Staaten forderten zunehmend solide, bezahlbare Medizintechnik statt überbordend ausgestattete „Edelangebote“. Doch die Drägerianer wollten lieber den „Goldstandard“ liefern, den niemand mehr bezahlen konnte. Das Unternehmen steckte in der Krise, weil es zu lange an uralten Produkten festhielt, nicht auf richtiges Management setzte, für die Probleme vor allem externe Gründe (Währungsverluste, weltweit politische Turbulenzen und Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen) anführte und nicht erkannte, dass die wahren Probleme innen liegen (internes Bürokratentum und eine veraltete Führungskultur). Francesco De Meo ist für eine Reform, die sich an der Chirurgie orientiert, „die personalisiert genau dort interveniert, wo dies nötig ist und punktgebnau hilft. Kombiniert mit an den regionalen bedarf angepassten Geschwindigkeiten in der Umsetzung.“
Heilung für ein krankes System: Was eine bessere Gesundheitsversorgung ausmacht:
- Veränderungen im täglichen Ablauf (Geschäftsführer der Kliniken sollten neben ihrer ökonomischen Fachkompetenz auch über grundlegende Kenntnisse in Medizin und Pflege verfügen)
- Vermeidung überflüssiger Aktivitäten (Doppeluntersuchungen etc.)
- Herstellung einer optimalen Balance zwischen der medizinischen Evidenz und einer ökonomischen Exzellenz
- Orientierung am tatsächlichen Bedarf der Bevölkerung (Bedarfe müssen vor Ort auf regionaler Ebene überblickt und entschieden werden)
- Nachhaltige Digitalisierungsstrategien (Umsetzung der Möglichkeiten von Digital Health)
- Vermeidung von Effizienzfallen
- Ergebnisorientierung statt Aufwandsorientierung
- Schaffung von Gestaltungsspielräumen für eine bedarfsgerechte Medizin
- Aufbrechen der inhärenten Grenzen und systemischen Dysfunktionen im deutschen Gesundheitswesen
- Personalisiert bedarfsgerechtes Handeln
- Bessere Infrastrukturen und Wirtschaftlichkeit
- Förderung und Ausbau von Innovationen
- Bewerbung eines nachhaltigeren und gesünderen Lebensstils
- Öffnung von Sektoren und Budgetgrenzen
- Senkung der Medikamentenkosten
- Stärkere Fokussierung auf den Bedarf älterer Menschen
- Nachhaltigkeit darf nicht nur an die institutionelle Ebene und nicht nur an die individuelle gekoppelt werden, wenn richtiges Nachhaltigkeitsmanagement wirksam werden soll
- Patientenwohl (gute Behandlungsqualität)
- Stärkere Fokussierung auf Prävention(smedizin)
- Vereinfachung und Vereinfachung der administrativer Prozesse
- Schonung der Ressourcen bei Einsatz zeitgemäßer Technologien
- Systemreformen (Vergütung muss stärker an der Outcomequalität von Behandlungen geknüpft werden, Reform der Finanzierung und des Vergütungssystems, Regionalbudgets, um die richtigen Anreize zu setzen und die falschen Anreize zu beseitigen)
- Aktive Transformation weg vom bewahrenden Stillstand (agilere Strategien für das gesamte Gesundheitswesen, Abkehr von bekannten Strukturen)
- Mehr Transparenz und eine bessere Kommunikation
- Radikales Umdenken - weg von Intervention, hin zur Prävention, weg von selektiv, hin zu kooperativ, weg von sektoralen Silos, hin zu barrierefreien Behandlungspfaden, weg vom Reden, hin zum Handeln
- Barrierefreie, bezahlbare und gute Versorgung (Etablierung regionaler Versorgungsnetzwerke, effektive Erhöhung der Versorgungsqualität, inhaltliche Orientierung an der praktischen Versorgungswissenschaft)
- Flächendeckender Zugang zu bezahlbarer Gesundheitsversorgung und gleichzeitige Sicherung der hohen Qualität der Leistungen.
Da Organisationen jedoch „menschengemacht“ sind, gibt es Hoffnung, dass sie auch verändert werden und an die Gegenwart angepasst werden können.
Das Buch:
- Francesco De Meo: Den schlafenden Riesen wecken. Wie ein gesundes Gesundheitssystem entsteht, wenn wir es wirklich wollen. Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt/M. 2024.
Weiterführende Informationen:
- Kommunale Daseinsvorsorge: „Es muss die Art, wie wir Gesundheitsversorgung praktizieren, radikal geändert werden“
- Krank: Steht unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps?
- „Das Gesundhaus ist ein lebendiger Raum für zukunftsfähige Medizin und Gesundheit!“ In IWW. Ausgabe 04 / 2024, Seite 18.
- Interdisziplinäre Medizin, Land + Innovation geht nicht? Geht doch!
- Demografischer Wandel: Pflegekräfte brauchen mehr als eine faire Bezahlung
- Wie die Kommunikation zwischen Arzt, Pflegekraft und Patient verbessert werden kann
- Wie Landwirtschaft und Medizin zusammenpassen. In: Bayrisch-Schwäbische Wirtschaft 9/2024.
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