Zeit der Rose: Was es bedeutet, das Leben zu „verdichten“
Die Tiefen des Lebens entdecken
„Sei ruhig, lebe gesetzt, sei weise, das übrige wird sich von selber machen“, schreibt Robert Walser in seiner Kurzprosa „Sonntagsspaziergang“, die in seiner Essaysammlung „Die Rose“ im Februar 1925 bei Ernst Rowohlt in schlanker, bibliophiler Ausstattung in Berlin erschienen ist. Enthalten sind siebenunddreißig Miniaturen, Kurzgeschichten, literarische und humoristische Betrachtungen. Es ist das letzte Buch, das Robert Walser selbst noch herausgegeben hat. Allen Texten gemeinsam ist, dass sie immer wieder den Versuch zeigen, die eigene Bewusstheit und Identität in haltlosen Zeiten zu retten und zu sichern. Sicherheit gibt es für Walser nur für einen Augenblick. Er nannte das Buch kurz nach Erscheinen gegenüber Therese Breitbach eines seiner „feinsten Bücher“, „das nur ältere und sehr vornehme Frauen in die Hand nehmen sollten, weil es an diesem Buch sehr viel zu verstehen und zu verzeihen gibt.“ Walsers Buch, eine Sammlung selbständiger, unabhängiger Kurzprosatexte, erinnert uns daran, nicht fühllos vorbeizublicken, sondern die Dinge und Geschehnisse nachhaltig in uns aufzunehmen, um unser Weltverständnis und Urteilsvermögen zu schärfen.
Es gibt Bücher, die langsam in uns hineinsinken, „und wir hören nicht auf, uns darüber zu wundern, dass Bücher ein so unendliches und sanftes Gewicht haben können und dass in uns solche Tiefen zu wecken sind. Was man dabei empfindet, grenzt an Glück“, sagt Robert Walser. Das gilt auch für dieses Buch, in dem das Hintergründige, Kleine und Nebensächliche eine besondere Bedeutung hat. Die Rose steht hier als traditionelles Sinnbild für Anmut, Liebe und Schönheit – doch erscheint sie bei Walser in der Textgruppe „Gespräche“ auch als eine profane Ware, die zwar schön anmutet und süß duftet, aber ihre Bedeutung im Alter nicht zu entfalten vermag. Vieles lässt sich auch in die Gegenwart übertragen: Bereits Monate zuvor werden alle Rosenstöcke zurückgeschnitten, um zum Valentinstag möglichst viele erntereife Rosen zu haben („Valentins Cut“). Wissen die meisten von uns überhaupt, wann welche Blume Saison hat? Wohl kaum, denn wir sind es gewohnt, das zu erhalten, was wir wollen – auch wenn für vieles die Zeit noch nicht reif ist. Auch Texte haben ihre Zeit, doch selbst das spielt heute kaum mehr eine Rolle – auch Worte reifen nicht mehr, sondern purzeln oft unreflektiert, plump und laut heraus.
Dagegen wirken die filigranen Walser-Texte aus seinem Spätwerk zart wie Blumen.
In der Titelgeschichte kauft ein Gast von einer Blumenfrau eine Rose, die er der Kellnerin schenkt, die allerdings bedauert, diese nicht vom ebenfalls im Lokal anwesenden Arthur erhalten zu haben. „Nicht die Aufmerksamen machen den Frauen Eindruck. Wir schauen achtungsvoll auf Achtlose“, sagt sie zu Arthur. In seinem Text „Eine Ohrfeige und Sonstiges“ heißt es: „Still saß ein Leiser für sich, da trat ein Lauter auf, dem der Leise die Lautheit schon von weitem ansah. Laute wirken mit dem bloßen Aussehen laut.“ Damit beschreibt er zugleich auch sein Dichter-Sein, zu dem es gehörte, die Welt zu beobachten und Wort für Wort zu beschreiben. Vieles erinnert an Rilke: „So ein Engel tut gut, wenn er wartet, bis man ihm mitteilt, man bedürfe seiner.“ Das Buch erfordert Aufmerksamkeit und Stille, die nur durch kleine Irritationen kurz aufgebrochen wird. So werden schweizerdeutsche Ausdrücke wie »Begrifsch?« gezielt verwendet sowie Wortspieltechniken und eigentümliche Stilexperimente. Das Buch stieß weitgehend auf Zustimmung und Begeisterung bei den Lesern und der zeitgenössischen Literaturkritik. Allerdings waren viele Rezeptionsdokumente bislang nicht bekannt und wurden erstmals im Anhang der neuen Ausgabe von „Die Rose“ bei Suhrkamp zum ersten Mal zugänglich gemacht. Walser ist heute vor allem durch seine Romane, seine feuilletonistische Prosa und Gedichte bekannt. Sein Werk erscheint seit 1978 im Suhrkamp Verlag (seit 2018 auch in der neuen kommentierten Berner Ausgabe).
„Für einen Dichter hat man nie Blumen genug.“ Robert Walser
Zeit seines Lebens erhielt Robert Walser, dem die geistig-moralische Freiheit und Ungebundenheit des Einsamen über alles ging, nie genug Anerkennung und Blumen. Der große Erfolg beim Publikum blieb ihm versagt. Walser gehört zu den verkanntesten Schriftstellern, die von anderen Autoren jedoch gepriesen wurden – dazu gehörten Hermann Hesse, Franz Kafka, Robert Musil und Kurt Tucholsky. Robert Otto Walser wurde am 15. April 1878 als siebtes von acht Kindern in Biel geboren. Die Mutter litt unter Depressionen, der Vater führte eine Papeterie. Nach der Schulzeit machte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Nach einigen weiteren Zwischenspielen versuchte er sich als Schauspieler: Nach dem erfolglosen Vorsprechen in Deutschland teilte er seiner Schwester mit: “Mit dem Schauspielerberuf ist es nichts. Doch, so Gott will, werde ich ein grosser Dichter werden.” Seine ersten Gedichte erschienen 1898 und öffneten erste Türen zu literarischen Kreisen. Er wechselte rasch seine Wohnungen, Mansarden, Zimmer und Anstellungen - je nach finanzieller Lage.
„Nicht auf der geraden Strasse, sondern auf Umwegen findet man das Leben.“ Robert Walser
Nach Erscheinen seines ersten Buches folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner inzwischen erfolgreich war. Walser absolvierte eine Dienerschule und schrieb drei Romane: “Geschwister Tanner” (1907), “Der Gehülfe” (1908), und “Jakob von Gunten” (1909). Sie führten zu einem Achtungserfolg, der aber nicht nachhaltig war. Mit dem Gefühl, gescheitert zu sein, kehrte er nach Biel zurück. In einer Mansarde schrieb er eine Vielzahl von Kurzprosatexten. Geld und Blumen waren rar, aber “Das Dichten war ihm heilig”. Ab 1921 lebte und schrieb er wieder in Bern unter schlechten Lebensbedingungen – auch wenn er immer wieder für Zeitungen wie Bund oder NZZ Gedichte und Texte publizierte. Um zu überleben, war es nicht genug. Er litt unter Angstzuständen. Aufgrund einer psychischen Krise kam Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 kam er in die Heil- und Pfleganstalt des Kantons Appenzell-Ausserrhoden. Als er 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt wurde, gab er das Schreiben vollständig auf: „Es ist ein Unsinn und eine Rohheit; an mich den Anspruch zu stellen, auch in der Anstalt zu schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein Dichter produzieren kann, ist die Freiheit”, sagte er Carl Seelig auf einem ihrer Spaziergänge. Walser lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Am 25. Dezember 1956 starb er auf einem Spaziergang im Schnee.
Weiterführende Informationen:
- Einen guten Überblick über Robert Walser und sein Werk bieten die Internetseiten des Robert-Walser-Zentrums unter https://www.robertwalser.ch/
- Zeit der Rosen: Vom Sterben und Werden
- Robert Walser: Die Rose. Hg. von Reto Sorg und Christine Weder. Suhrkamp Verlag 2023.
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