Zeitenwende mit Erich Kästner: Die Dummheiten wechseln, aber die Dummheit bleibt
Die Stadt München ist mehr als nur die Wahlheimat des Schriftstellers und Moralisten Erich Kästner, der kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie noch in Ruinen lag, hierherkam und bis zu seinem Tod blieb. Sie ist auch ein Symbol für Zusammenbruch und Aufbruch, für Zeitenwende und Verblendung.
Der Kästner-Biograf Alfons Schweiggert schreibt: „Politikerinnen und Politiker, so Kästners Ansicht, erliegen stets aufs Neue der Täuschung, sie seien fähig, das Land zu erneuern und sie verkünden großmundig eine ‚Zeitenwende‘. Doch dann sind diese ‚Zeitenwender‘ meist nur ‚Zeitenblender‘.“ In seiner „Nachrede als Vorrede“ aus dem Jahr 1956 bemerkt Kästner dazu: „Immer wieder kommen Staatsmänner mit großen Farbtöpfen des Wegs und erklären, sie seien die neuen Baumeister. Und immer wieder sind es nur Anstreicher. Die Farben wechseln, und die Wände bleiben… Die Dummheiten wechseln, und die Dummheit bleibt.“
Der Text findet sich auch im Atrium-Bändchen „Kleiner Liebesbrief an München“. Sylvia List hat dafür Texte und Gedichte aus dem Gesamtwerk, Briefe und Notizen Erich Kästners ausgewählt und mit Erklärungen zu Personen, Orten und Straßen ergänzt. Damit vervollständigt der Verlag im Kästner-Jubiläumsjahr die Reihe Erich Kästner und seine Stadt.
Erich Kästner, geboren am 23. Februar 1899 in Dresden, begründete mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: „Herz auf Taille“ (1928) und „Emil und die Detektive“ (1929). Es folgten zahlreiche weitere Bücher, Kinderbücher, Gedichtbände und Essays. Kästners Werke sind 1933 auf den Scheiterhaufen der Nationalsozialisten verbrannt worden. Er stand dabei und sah hilflos zu. Er ging dennoch nicht in die Emigration. 1965 verbrannten in Düsseldorf Mitglieder des „Evangelischen Jugendbundes für entschiedenes Christentum“ wieder Bücher von ihm, Günter Grass, Albert Camus und anderen.
Kästner, der an die Macht des vernünftigen Wortes glaubte, war über diesen erneuten „Feuereifer“ entsetzt.
In München wirkte er am kulturellen Wiederaufbau mit, übernahm die Feuilletonredaktion der frisch gegründeten Neuen Zeitung (die als „amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung" demokratische Aufklärung leisten sollte), engagierte sich im politischen neuen Kabarett Schaubude und beteiligte sich an Demonstrationen für Abrüstung. Die vorliegenden Texte sind ein Reiseführer zu seinem Spätwerk, führen aber auch vorbei am Maximilianeum, die Ludwigstraße hinunter, ins Hotel Schottenhammel (das in der Prielmayerstraße stand), zur von Jella Lepman frisch gegründeten Internationalen Jugendbibliothek (die Kästner unter anderem mit dem eigens dafür verfassten Weltbestseller "Die Konferenz der Tiere" unterstützte) in die Kaulbauchstraße 11a, zur von ihm herausgegebenen Jugendzeitschrift Pinguin oder in überfüllte Züge nach Garmisch, zu Wanderungen an den Eibsee und zur Zugspitze. Es finden sich im Buch auch Ausschnitte seines Welterfolges "Das doppelte Lottchen", das er 1948 auf der Fraueninsel im Chiemsee beendete. Kästner wurde Präsident der gesamtdeutschen, nach der Spaltung Präsident der bundesrepublikanischen Schriftstellervereinigung PEN und engagierte sich bis ins hohe Alter politisch (Demonstrationen gegen Atomkraft oder den Krieg in Vietnam). Am Ende leidet er an Krebs und an "Versteinerung" (Hilde Spiel). Am 29. Juli 1974 stirbt er im Krankenhaus Neuperlach und ist allein. Kurz und bündig hält er uns mit seinem Werk, das Generationen bis heute beeinflusst und bewegt, den Spiegel vor. Der Autor Alfons Schweiggert berichtet hier über seine Begegnung mit ihm. Der Text ist nicht im Buch enthalten, sondern erschien in meinem Blog, aber er gehört auch in den Münchner Kontext – zumal Alfons Schweiggert 1999 selbst ein Buch schrieb mit dem Titel: "Erich Kästner. Liebesbrief an München. Die Münchner Jahre und die Jahre davor“.
Eine Erinnerung Erich Kästner von Alfons Schweiggert
Im September 1970 unterrichtete ich als gerade frisch gebackener, 23 Jahre junger Lehrer in Augsburg eine Grundschulklasse. Da ich im Unterricht mit den Kindern auch oft und gerne Erich Kästners Kindergedichte las, kam ich auf die Idee, dem berühmten Dichter, der in München lebte, einen Brief zu schreiben und ihm davon zu erzählen, wobei ich anmerkte, dass ich selbst auch schon einige Kindergedichte verfasst habe. Anfang Oktober teilte mir Kästners Sekretärin mit, Herr Kästner würde sich freuen, wenn ich ihm ein paar Proben meiner Kindergedichte zukommen ließe. Dieser freundlichen Einladung konnte ich natürlich nicht widerstehen und sandte dem berühmten Autor einige Proben von mir, worauf ich am 11.11.1970 einen Brief von Kästner erhielt. Kästners Worte „Sie sollten weiterschreiben“ war für mich natürlich eine Aufforderung, auf die ich stolz war und der ich folgen wollte. Ich bedankte mich bei Kästner brieflich. Als ich im Dezember erfuhr, dass die Gasstätte Leopold wieder geöffnet hatte, schrieb ich am 22. 12. an Kästner, dass ich mich gerne auch noch persönlich bei ihm bedanken wolle und ob es möglich sei, ihn deshalb besuchen zu dürfen. Dass er einem Treffen wirklich zustimmen würde, glaubte ich zwar nicht so recht, denn „Kästner war ein stiller, ja ein schweigsamer Mensch“, wie sein Illustrator Horst Lemke einmal sagte. Es sei „nicht einfach, ihm näherzukommen oder gar seine Freundschaft zu gewinnen.“ Umso überraschter war ich, dass der so Beurteilte eine Zusammenkunft mit mir nicht ablehnte. Am 30. Dezember erhielt ich von Kästners Sekretärin Liselotte Rosenow eine Nachricht, in der sie mich im Auftrag Kästners in die Gaststätte Leopold zu einem Treffen einlud…
Ein Treffen war nun also doch möglich. Vielleicht lud Kästner mich deshalb ein, weil ich ein frischgebackener Lehrer war. Außerdem hielt sich seine Scheu jungen Leuten gegenüber in Grenzen. Ein Verlagslektor meinte jedenfalls zu mir: „Da haben Sie aber Glück, Herr Schweiggert, dass Kästner Sie an sich heranlässt.“ Die Begegnung fand Mitte Januar statt. Als ich im Café Leopold ankam, begrüßte mich Kästner mit zurückhaltender Herzlichkeit und bat mich an seinen Tisch. Auf ihm stand ein Glas, gefüllt mit dem von ihm so heiß geliebten Whisky. Mir fielen seine buschigen Augenbrauen auf. Unter ihnen blitzten zwei kluge, blaue, schönbewimperte Augen, die mich unauffällig musterten. Um seine Lippen spielte dabei ein stilles, verschmitztes Lächeln. Als kleines Geschenk brachte ich ihm eine Porträt-Skizze von mir mit. Er warf einen Blick darauf und meinet lächelnd: „O Gott, war ich da noch jung! – Aber Sie haben mich gut getroffen.“
Wir kamen rasch miteinander ins Gespräch. Er erzählte mir, einen Anflug von sächsischem Dialekt in der Stimme, von seiner Kindheit in Dresden, von seinem Studium an der Leipziger Universität und seinem Aufenthalt in Berlin und davon, dass er nach dem Krieg in München gelandet sei. „Sehen Sie“, sagte er und kritzelte folgende Skizze auf ein Stück Papier, „diese vier Städte waren und sind für mich von Bedeutung.“
„Können Sie mitnehmen, wenn Sie wollen“, sagte er und schob mir den Zettel zu. Dann fragte er mich nach meiner Arbeit an der Schule. Im Verlauf meiner Antwort meinte ich: „Sie wären doch auch selbst beinahe Lehrer geworden. Stimmt das eigentlich, das Sie deshalb davon Abstand nahmen, weil Sie sich als stets weiter Lernender begriffen haben und deshalb nicht Lehrer sein konnten?“ Kästner schmunzelte, strich sich durch sein graugewelltes Haar und meinte: „Das auch. Aber wissen Sie, das klingt so bedeutsam. Der eigentliche Grund war doch eher, dass ich den Lärm, den Kinder nun einmal machen müssen, nicht ausgehalten hätte, bei meinen Nerven. – Haben Sie gute Nerven?“ Ich wusste nicht gleich eine Antwort darauf. Da half mir Kästner: „Ja, wie gut die eigenen Nerven sind, merkt man erst, wenn sie aufgehört haben, es zu sein. Und da haben Sie noch etwas Zeit.“
Danach kehrten wir in unserem Gespräch zu meinen Schreibversuchen zurück, und dabei lernte ich Kästner als einen Mann kennen, der freimütig Lob spendete, der freundlich zu ermuntern wusste und der behutsam konstruktive Kritik zu formulieren verstand. Er gab mir humorvolle Impulse, öffnete mir die Augen für wesentliche Details und legte mir seine Vorstellungen von literarischer Arbeit dar. Kurzum, er zeigte sich mir als Mann, der unaufdringlich alle jene Eigenschaften ausstrahlte, wie sie nur „geborenen“ Lehrern zueigen sind, auch wenn diese keine guten Nerven besitzen. Als ich ihm beim Abschied dankte und scherzte: „Wie Sie mir gerade gezeigt haben, sind Sie doch Lehrer geworden“, meinte der 72jährige lächelnd: „Mag sein, aber ohne Pensionsberechtigung.“
Zu weiteren persönlichen Kontakten mit Kästner kam es leider nicht mehr, da er kurze Zeit später schwer erkrankte und drei Jahre darauf viel zu früh starb. Wenn ich gefragt werde, wie ich denn zum Schreiben gekommen sei, erinnere ich mich immer wieder gerne an die Begegnung mit ihm und an die aufmunternden Zeilen in seinem Brief: „Sie sollten weiterschreiben – für Kinder wie für Erwachsene.“ Dieser seiner Aufforderung bin ich jedenfalls gefolgt.
Das Buch:
- Erich Kästner: Kleiner Liebesbrief an München. Erich Kästner und seine Stadt. Hg. von Sylvia List. Atrium Verlag, Zürich 2024.
Weiterführende Informationen:
- Kurz und bündig: Vom nachhaltigen Gebrauchswert wahrer Sätze
- Natürlich Kästner! „Die Welt verliert das Laub und den Verstand“
- Wie Erich Kästner mir begegnete Gastbeitrag von Alfons Schweiggert
- Alfons Schweiggert: Erich Kästner. Liebesbrief an München. Die Münchner Jahre und die Jahre davor, München 1999.
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